© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/19 / 18. Januar 2019

„Es ist erschreckend“
Linksradikale Gewalt ist Alltag in Deutschland. Und keine Partei ist so von Übergriffen betroffen wie die AfD. Dennoch ist dies in den Medien kaum ein Thema. Warum? Antworten gibt der Linksextremismus-Experte Karsten D. Hoffmann
Moritz Schwarz

Herr Dr. Hoffmann, ist der Fall Magnitz eine Zäsur?

Karsten D. Hoffmann: Ja und nein. Nein insofern – und das ist das Erschreckende – als daß linksmotivierte Angriffe in dieser Intensität keine Ausnahme sind. Und auch die Anzahl der Gewaltdelikte ist hoch. Der Extremismusforscher Eckhard Jesse hat jüngst daran erinnert, daß es allein 2018 fast zweitausend linksmotivierte Gewalttaten in Deutschland gegeben hat – das sind gut fünf pro Tag. 

Allerdings, richtet sich linksextreme Gewalt nicht nur gegen Sachen? 

Hoffmann: Das wird gerne behauptet, ist aber „Fake News“. Laut Bundes­innenministerium gibt es pro Jahr an die eintausend linksmotivierte Körperverletzungsdelikte. Und übrigens, auch was Gewalt gegen die AfD angeht, ist der Fall Magnitz keine Zäsur. So wurde einem ihrer Landesvorsitzenden bereits das Jochbein, einem Bundestagsabgeordneten die Hand gebrochen und ein Stuttgarter AfD-Stadtrat bei einem Überfall mit einer Holzlatte niedergestreckt. 

Aber „linke Politik ... lehnt Gewalt ab. Deshalb sind Gewalttäter ... nicht links“, versichert SPD-Bundesvize Ralf Stegner.  

Hoffmann: Martin Schulz hat sich ja ganz ähnlich geäußert. Dahinter steckt die Strategie, das eigene politische Lager als „immun gegen Extremismus“ darzustellen. Inhaltlich ist das völliger Unfug. Wer daran zweifelt, der sollte sich einmal Szenezeitschriften wie Interim oder radikal durchlesen oder die Texte des Onlineportals Indymedia. In der militanten linken Szene herrscht Konsens, daß das Schlagen und Treten politischer Gegner legitim sei. 

Und inwiefern ist der Fall Magnitz dann doch eine Zäsur, wie Sie oben sagen?  

Hoffmann: Insofern als er eine Aufmerksamkeit erregt hat, wie keiner der Fälle zuvor. Wahrscheinlich wegen des erschreckenden Fotos vom verletzten Magnitz, das die AfD veröffentlicht hat. 

Hat sie so den Überfall instrumentalisiert, wie ihr vorgeworfen wird? 

Hoffmann: Diesen Vorwurf finde ich völlig daneben. Erstens zeigt das Bild lediglich die Realität. Zweitens steht es dem Opfer zu, die Folgen der Gewalt öffentlich zu machen. Ob ein Kantholz verwendet wurde oder nicht – Attacke und Verletzung sind real. Was den Fall aber besonders macht, ist, daß er die Akteure der öffentlichen Debatte wegen der Drastik des Fotos und der so erzeugten Emotionen gezwungen hat, Stellung zu nehmen und sie ihn nicht so einfach übergehen konnten, wie das in der Vergangenheit der Fall war.

Aufgabe der Medien ist es, Mißstände aufzudecken, möglichst bevor sie für jedermann sichtbar sind. Wenn der Fall Mag­nitz gar nichts Neues birgt, dennoch aber so wirkt, folgt dann daraus ein Versagen der Medien? 

Hoffmann: Es ist ja nicht so, daß die Medien linksmotivierte Gewalt verschweigen würden. Aber die Berichterstattung darüber bleibt häufig lokal, und sie versäumt es, daraus einen Gesamtzusammenhang abzuleiten.

Und der wäre? 

Hoffmann: Durch die Vielzahl der Angriffe wird für die Betroffenen eine permanente Bedrohungssituation und auch eine reale Benachteiligung geschaffen. Es geht den Tätern ja nicht um den Sachschaden, den sie anrichten. Jeder Angriff beinhaltet auch gleichzeitig eine Drohung, die in etwa lautet: Wir wissen, wo du wohnst! Und wenn du nicht aufhörst, dich politisch zu betätigen, dann kommen wir wieder! Und natürlich wirkt das auch auf Dritte, die sich ähnlich politisch engagieren. 

Wer ist davon besonders betroffen? 

Hoffmann: Aufgrund parlamentarischer Anfragen in den Bundesländern wissen wir, daß die AfD am häufigsten Opfer von Übergriffen auf Parteien ist. Und zwar in solchem Ausmaß, daß sie etwa nicht, wie die anderen Parteien, über Plakate kommunizieren kann, weil diese abgerissen werden. Sie findet auch kaum Gaststätten, in denen sie Veranstaltungen durchführen kann. Ihre Parteibüros werden schwer beschädigt. Und bei öffentlichen Veranstaltungen muß sie jederzeit mit Angriffen rechnen. Die „Chancengleichheit im politischen Wettbewerb“, die gemäß Artikel 21 Grundgesetz zu den Grundsätzen unserer Verfassung zählt, ist damit faktisch nicht mehr gegeben.

Also stilisiert sich die AfD nicht zum Opfer, wie ihre Kritiker behaupten, sie ist es tatsächlich? 

Hoffmann: Die Zahlen sprechen für sich. Mit der Initiative, in die ich mich einbringe, haben wir seit Gründung der AfD etwa 650 Übergriffe auf diese Partei dokumentiert. Das beginnt bei den sogenannten „Outings“, also dem widerrechtlichen Veröffentlichen privater Daten und Adressen, und es endet bei körperlicher Gewalt wie im Fall Magnitz. Die eben genannte Zahl basiert übrigens allein auf öffentlich zugänglichen Quellen. Da mag man eine Fehlerquote von vielleicht zehn Prozent abziehen – aber die tatsächliche Zahl der Delikte, die Dunkelziffer, dürfte weitaus höher liegen als 650. 

Ist das nicht ein Zustand, über den demokratische Medien berichten müßten? 

Hoffmann: Sicher, das ist ja, was ich kritisiere.

Also doch ein Medien-Versagen? 

Hoffmann: Sagen wir, die meisten Medien leisten hier nicht, was sie dem eigenen Anspruch nach leisten müßten. 

Warum tun sie es nicht? 

Hoffmann: Wir wissen aus Studien, daß der Großteil der Journalisten sich selbst politisch eher links einordnet. Es ist also gar nicht verwunderlich, daß sie ein Thema wie linksmotivierte Gewalt vernachlässigen und es so darstellen, als sei es nur ein punktuelles Problem. Dabei darf man aber nicht alle Journalisten über einen Kamm scheren. Im Laufe der Jahre haben mir viele gesagt, daß sie gern mehr über das Thema berichten würden. Aber es fehlen ihnen wissenschaftliche Studien, auf die sie aufbauen können und auch Experten als potentielle Interviewpartner. Da gibt es in puncto Rechtsextremismus ein viel, viel größeres Angebot: Außer zahlreichen Organisationen und Publikationen finden sich in fast jeder größeren Stadt ehrenamtliche Initiativen, die rechtsmotivierte Gewalt erfassen und dokumentieren. Wo aber gibt es ein entsprechendes Bürgerengagement bezüglich linksmotivierter Gewalt? 

Also ein Vorwurf nicht an die öffentlichen Institutionen, sondern an die Bürgerschaft?

Hoffmann: Sowohl als auch. Insbesondere von den parteinahen Stiftungen, die jährlich Hunderte Millionen Euro aus Steuergeldern erhalten, wäre mehr zu erwarten. Eine Ausnahme stellt hier die vergleichsweise kleine Hanns-Seidel-Stiftung der CSU dar, die sich regelmäßig mit dem Thema befaßt. Das Engagement der Konrad-Adenauer-Stiftung ist im Vergleich dazu, sagen wir, deutlich ausbaufähig. Und die Stiftungen der Parteien links der Union tun so, als würde es linke Gewalt gar nicht geben. Dabei sollten sie wissen: Gäbe es die AfD oder andere rechtsgerichtete Gruppen nicht, würde sich linksmotivierte Gewalt gegen die etablierten Parteien richten. Und tatsächlich kommt es ja auch zu Angriffen von linken Gruppen auf Parteibüros von SPD und Grünen – wenn auch in geringer Zahl. Linksextremisten wollen ja nicht nur die AfD abschaffen, sondern die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Und weil die großen Stiftungen sich hier derart zurückhalten, sage ich: Wir als Bürger müssen unabhängig von diesen Organisationen beginnen, uns mit dem Thema zu befassen!

Ist der Anspruch aber nicht unrealistisch, denn eine entsprechende Anti-Links-Bürgerinitiative würde rasch an der Unterstellung scheitern, „rechts“ zu sein. 

Hoffmann: Eine solche Bürgerinitiative hätte bestimmt mit Vorwürfen zu leben, „rechts“ zu sein. Aber deswegen muß sie nicht scheitern, insbesondere nicht, wenn sie sachlich arbeitet – das heißt, nicht übertreibt und nicht dramatisiert. Die Realität ist dramatisch genug.

Was ist mit der Politikwissenschaft? 

Hoffmann: Die Frage ist mehr als berechtigt! Nach wie vor gibt es ein erhebliches Forschungsdefizit, was linke Militanz betrifft. Zwar sind in den letzten Jahren einige Überblicksdarstellungen erschienen, aber kleinteilige empirische Arbeiten über militante Gruppen fehlen fast völlig. Viele Dozenten verstehen sich selbst als „eher links“ und haben daher kein Interesse, sich mit linken politischen Szenen auseinanderzusetzen. Wer es dennoch tut, muß damit rechnen, daß seine Vorlesungen gestört oder gar niedergebrüllt werden. Und die Karriereoptionen sinken mit einer Spezialisierung auf Linksextremismus zudem deutlich. Das beginnt schon damit, daß man kaum einen Doktorvater findet – und es endet damit, daß es weitaus mehr Fördergelder im Themenbereich Rechtsextremismus gibt und vor allem kaum Stiftungen, bei denen man arbeiten könnte. Die Stasi-Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen ist eine der wenigen, die intensiv zum Thema arbeiten. 

Ein dominantes Theorem der Rechtsextremismusforschung ist das vom „Rassismus in der Mitte der Gesellschaft“. Kann ein Linksextremismusforscher die gleiche Erkenntnis – etwa eines Marxismus in der Mitte der Gesellschaft – überhaupt formulieren? Schließlich gilt dies doch als klassisch „rechtsextreme Verschwörungstheorie“.

Hoffmann: Das Problem liegt durchaus auch in der Mitte der Gesellschaft. Aufgrund der mangelhaften Auseinandersetzung mit linker Gewalt hat sich dort in Teilen die Auffassung verfestigt, Gewalt gegen Rechts wäre legitim. Das läßt sich übrigens auch einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung der Politologin Viola Neu entnehmen. In dieser wurden junge Menschen nach ihrer Einstellung zu linken Gewalttaten befragt, und es kamen Antworten wie: „Ein Stein gegen Nazis trifft nicht den Falschen.“ Es kamen also Sichtweisen ans Licht, die mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht vereinbar sind. Ein solches Klima begünstigt natürlich auch Angriffe auf die AfD.

Sie waren bis 2017 Mitglied der AfD und haben an der „Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter“ mitgewirkt, mit der die Partei gegen sie gerichtete Gewalt dokumentieren wollte. Warum ist das Projekt gescheitert?  

Hoffmann: Ich war in der Anfangsphase, ab Winter 2015, dabei. Es stellte sich aber schnell heraus, daß das verantwortliche Bundesvorstandsmitglied Paul Hampel und ich unterschiedliche Vorstellungen hatten: Um die Ergebnisse einer solchen Arbeit glaubwürdig vermitteln zu können, hätte ich mir gewünscht, daß eine Gruppe aus Experten ohne Parteiämter, dafür aber mit einem wissenschaftlichen Konzept, die Leitung übernimmt und nicht ein exponierter AfD-Politiker wie Hampel. Ich hätte zudem die Dokumentation von Übergriffen nicht auf die AfD beschränkt, sondern auch Übergriffe auf andere Parteien dokumentiert. Nicht zuletzt fand ich schon die Wahl des Namens anmaßend, da dieser sich auf die „Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen“ in Salzgitter bezieht, die während der deutschen Teilung die Todesfälle an der innerdeutschen Grenze dokumentierte. Meine Vorschläge haben aber kaum jemanden interessiert, deswegen bin ich schon nach wenigen Monaten aus dem Projekt ausgestiegen, das dann schließlich versandet ist.

Statt dessen haben Sie mit der „Forschungsgruppe Extremismus und Militanz“ (FGEM) eine eigene Initiative gegründet.

Hoffmann: Tatsächlich hat sich diese Gruppe schon 2012 zusammengefunden, also völlig unabhängig von der AfD. Es ist keine Institution mit festen Mitarbeitern und Fördergeldern, sondern ein kleiner Kreis ehemaliger oder noch aktiver Politikstudenten, die sich mit dem Thema Extremismus und Militanz befassen. Es geht darum, sich gegenseitig bei der wissenschaftlichen Arbeit zu helfen. Wir haben zum Beispiel kommentierte Literaturlisten erstellt, wir korrigieren gegenseitig unsere Texte und vermitteln uns gegenseitig Interviews und Rezensionen. Außerdem dokumentieren wir politisch motivierte Militanzdelikte und versuchen, daraus Rückschlüsse auf Täter und Tatbegehung zu ziehen. Anfangs beschränkte sich das auf linksmotivierte Gewalt, weil wir hier das größte Defizit gesehen haben. Mittlerweile befassen wir uns auch mit islamistischer und rechtsmotivierter Militanz. Wir haben die Gruppe dann 2015 offiziell als Verein eintragen lassen – in der Hoffnung, auf diese Weise mehr Menschen einbinden zu können. Tatsächlich ist das Interesse aber leider nach wie vor gering. Wirklich aktive Mitglieder hatten wir nie mehr als eine Handvoll. Dabei halte ich es für sehr wichtig, auf politisch motivierte Militanz hinzuweisen – sonst bleibt am Ende die Meinungsfreiheit auf der Strecke.       






Dr. Karsten D. Hoffmann, ist Politikwissenschaftler mit den Schwerpunkten Parteien- und Extremismusforschung und war zwölf Jahre Beamter in einem Einsatzzug der Hamburger Bereitschaftspolizei. 2011 wurde er bei Eckhard Jesse mit einer Arbeit über das Autonome Zentrum „Rote Flora“ an der TU Chemnitz promoviert. Die Dissertation wurde mit dem „Preis der Deutschen Hochschule der Polizei“ ausgezeichnet. Er ist Sprecher der Forschungsgruppe Extremismus und Militanz (FGEM) und schreibt derzeit an einem Buch über militante linke Szenen. Seit seinem Austritt aus der AfD, der er von 2015 bis 2017 angehörte, ist Hoffmann parteilos. Zeitweilig vertrat er die Partei im Kreistag des niedersächsischen Rotenburg an der Wümme, wo er 1977 geboren wurde. 

Foto: Unbekannte überfallen den Landesvorsitzenden der Bremer AfD (Videobilder einer Überwachungskamera vom 7. Januar): „Der Fall Magnitz ist keine Ausnahme. Dennoch ist er eine Zäsur insofern, als er eine Aufmerksamkeit erregte, wie keiner der Fälle zuvor ... Er konnte nicht einfach, wie in der Vergangenheit, in der öffentlichen Debatte übergangen werden“

 

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