© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/19 / 18. Januar 2019

In der Rolle des Sündenbocks
Diskurs: Politisch Andersdenkende werden als Lügner, Hetzer und Brandstifter markiert und angegriffen
Thorsten Hinz

Der lebensgefährliche Anschlag auf den Bremer AfD-Vorsitzenden und Bundestagsabgeordneten Frank Magnitz (66) fand in einem politischen und medialen Kontext statt. Die AfD ist durchweg einer Verdachts-, mindestens einer Negativberichterstattung ausgesetzt. Die Partei sei „widerwärtig“, „fremdenfeindlich“, „menschenverachtend“, wurzele geistig im Nationalsozialismus und verbreite „Haß“ und „Hetze“, so der gängige Tenor. Doppelte Standards sind das Übliche. Alexander Gaulands Äußerung am Abend der Bundestagswahl, man werde die Kanzlerin „jagen“, wird der unmittelbare Wortsinn unterlegt. Die Ankündigung der SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles in Richtung Union: „Ab morgen kriegn sie in die Fresse!“, wird dagegen metaphorisch aufgefaßt. Die Veröffentlichung intimer Chats, ein Wäscheklau am Badesee, die Ausspähung der Privatsphäre, der Psycho- und Alltagsterror gegen AfD-Politiker gilt zwar nicht als fein, doch letztlich als angemessen. Unmenschen verdienen nun mal eine Sonderbehandlung, lautet die giftige Insinuation, die Tag für Tag ins Bewußtsein des Publikums geträufelt wird. 

Die Grenzen zwischen Journalismus und Bütteltum sind fließend. Als der Verleger Götz Kubitschek vor der Frankfurter Buchmesse 2018 in einem Notwehrakt die Öffentlichkeit mit der Nachricht foppte, den Verlag verkaufen zu wollen und künftig als Berater für die AfD tätig zu werden, mochte der FAZ-Schreiber sich nicht darauf beschränken, die vermeintliche Exklusivmeldung zu verbreiten, er schickte auch die Empfehlung hinterher: „Für die Materialsammlung des Bundesamtes für Verfassungsschutz über die AfD wäre eine Beratung durch Kubitschek recht relevant.“

Der Sprachwissenschaftler Joachim Scharloth von der TU Dresden hat in den Auftritten und Verlautbarungen von AfD-Politkern eine Häufung skandalisierender Vokabeln festgestellt. Dazu zählen Substantive wie „Blindheit“, „Chaos“, „Desaster“, „Dummheit“ und Adjektive wie „abartig“, „abnorm“, „absurd“. Soweit Scharloth sich auf die linguistische Analyse beschränkt, ist seine – im Internet einsehbare – Studie höchst lehrreich. Wenn er jedoch aus dem Sprachgebrauch der AfD und ihrer „Forderung nach mehr plebiszitären Elementen und (der) Höherbewertung des Common Sense im Vergleich zu Expertenwissen“ den Schluß zieht, die AfD sei „als populistisch zu kategorisieren“, überschreitet er seine fachliche Kompetenz. Das pejorative Allerweltswort „populistisch“ sei ihm geschenkt. Es sei aber daran erinnert, daß die Schweiz mit Plebisziten gute Erfahrungen gemacht hat und viele „Experten“ sich als regierungskonforme Dünnbrettbohrer erweisen.

Die Sprache der AfD läßt sich sinnvoll nur mit Blick auf die kritisierten Zustände und auf die Politik bewerten, die sie herbeigeführt hat. Die Zurückhaltung der anderen Parteien kann umgekehrt sogar der Beleg sein, daß sie sich in einem postdemokratischen Leerlauf befinden und die AfD die einzige Partei ist, die den Wählerauftrag ernst nimmt.

Hemdsärmelig ging der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering in dem „Impulsvortrag“ vor, den  er im November 2018  vor dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken „Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten“ hielt. Erwartungsgemäß begann er mit Gaulands unglücklichem „Vogelschiß“. Für sich genommen sei das Wort nicht böse, „sondern erst seine Anwendung auf den industriell organisierten Massenmord an den europäischen Juden.“

Man möchte den Professor am Ohr zupfen und ermahnen: „Heinrich, lies den ganzen Satz!“ Gauland hatte gesagt: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiß in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.“ Das Wort bezog sich ausschließlich auf die zwölfjährige Zeitperiode, nicht auf den Holocaust. Doch Detering braucht die Unterstellungen und Verzerrungen, um das „zur Fratze gewordene Zerrbild“ des „romantischen Nationalismus“ im AfD-Führungspersonal kenntlich zu machen und schließlich zum finalen Schlag auszuholen: Gaulands Sprache sei „bloß der schlecht verkleidete Jargon von Gangstern“. Der öffentlich-rechtliche NDR machte daraus die Meldung: „Germanist: AfD-Sprache ‘Jargon von Verbrechern’“. Die Magnitz-Attentäter dürfen sich mit dem Germanistik-Professor und dem Staatssender im Einklang und als Vollstreckungsbeamte der guten Gesinnung fühlen.

Der SWR-Journalist Georg Restle hat versucht, mit einem offensiven Bekenntnis der Kritik an der Einseitigkeit der Medien die Spitze zu nehmen: „Das Einordnen von Fakten in einen größeren Kontext, das Offenlegen von Interessen und Machtstrukturen. Und natürlich darf, ja soll ein Journalist auch bewerten, was er recherchiert hat, solange er dies kenntlich macht. Besser so, als eine ‘Neutralität’, die Uneinlösbares verspricht und dabei die eigene Haltung nur kaschiert.“ 

Die „Haltung“ ist für Journalisten zum Schlüsselbegriff geworden, weshalb schon vom „Haltungsjournalismus“ die Rede ist. Er bezeichnet keine pluralistische Überzeugung, sondern den Anspruch geistig-moralischer Überlegenheit und schließt den politischen „Kampf gegen Rechts“ ein. Im offiziellen Sprachgebrauch der DDR verband die „Haltung“ sich mit der „Parteilichkeit“ zur „parteilichen Haltung“. Das Adjektiv „parteilich“ besitzt eine andere Qualität als „parteiisch“. Wer „parteiisch“ ist, räumt seine Voreingenommenheit und damit die Unvollkommenheit seines Versuchs der Wahrheitsfindung ein. Deshalb akzeptiert er andere, auch gegenteilige Haltungen und Perspektiven.

Die Vertreter der „parteilichen Haltung“ hingegen fühlten und fühlen sich identisch mit „echter Objektivität“ und als Vollstecker der „geschichtlichen Notwendigkeit“ (Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, Ost-Berlin 1984). Andersdenkende sind demzufolge Lügner, Hetzer, geistige Brandstifter, politische Verbrecher, die mundtot gemacht werden müssen.

Das Gegenstück zum parteilichen Haltungsjournalismus ist die alternativlose Politik. Gemeinsam bilden sie eine Machtstruktur. Georg Restle ist Teil von ihr und deshalb unfähig, sie offenzulegen oder gar zu kritisieren.

Er und seine Gesinnungsgenossen können ihre öffentliche Dominanz nicht mehr positiv begründen. Um so aggressiver reagieren sie. Zur Vorgeschichte des Überfalls auf Frank Magnitz gehört ein Artikel, der zum Jahreswechsel in der taz erschien und einen Rundumschlag gegen die „AfD-Rechtsaußen“, „Rechtspopulisten“ und „braunen Horden“ enthielt. Als Vorbild für den Umgang mit ihnen wurde eine „Gruppe 43“ vorgestellt. Es handelte sich um zunächst 43 Männer, die ab 1946 im Londoner East End die Anhänger des Faschisten Oswald Mosley verprügelten, wann immer sie öffentlich auftraten, bis sie von der Straße vertrieben waren. Wobei die AfD nur einer von vielen Köpfen einer internationalen Hydra sei: „Gauland, Trump, Orbán, Salvini, Kaczynski und Konsorten“ – der „Faschismus lauert unter der Oberfläche jeder Gesellschaft“. 

Der taz-Autor Ralf Sotscheck ist kein pubertierender Halbstarker, der seinem antifaschistischen Initiationserlebnis entgegenfiebert. Es handelt sich um einen Mann von 64 Jahren, dem sein Weltbild verrutscht ist. Interessanter als das, was er schreibt, ist das, was er wegläßt. Die bunte und weltoffene Gesellschaft, die man erfolgreich erkämpft hat, bringt Probleme mit sich, die man sich im Traum nicht vorgestellt hat und für die man keine Lösung weiß. Hingegen ehrt den Kabarettisten Jürgen von der Lippe das Eingeständnis, Witze über den Islam aus Angst zu unterlassen. Sein Leben sei ihm „wichtiger als ein guter Gag“.

In der AfD haben die verdrängten Zweifel und Selbstzweifel in der Gesellschaft politische Gestalt angenommen. Das wiederum prädestiniert sie für die Rolle des Sündenbocks, den einst die Hohepriester mit den Sünden des Volkes beluden und in die Wüste schickten, um Gott gnädig zu stimmen und die Welt wieder ins Lot zu bringen. Auch die tief verunsicherte Gesellschaft der Bundesrepublik mag auf das magische Zeremoniell nicht verzichten. Laut dem 2015 verstorbenen Kulturanthropologen René Girard wird es in der modernen Gesellschaft in zwei Stufen vollzogen. Weil es sich nicht mehr gehört, den Gegner einfach zu töten oder ins Gefängnis zu bringen, geht man dazu über, eine unliebsame Person, ein Volk oder auch eine Partei „künstlich zum Übeltäter zu stempeln, zum Verfolger zu erklären. Dann habe ich ein Recht, ihn mit aller Gewalt am Verfolgen zu hindern.“

Im Widerstand gegen das imaginierte Böse dürfen die Menschen sich weiterhin gut und aufgeklärt fühlen, wenn sie andere verfolgen, ächten, verletzen oder gar töten. Gleichzeitig findet die Gesellschaft zu neuer Einheit. Ist das die ultimative Form der Selbstvergewisserung, wenn liberale Demokratien in eine Lebenskrise geraten?

Die Studie „Ist die AfD eine populistische Partei?“ von Joachim Scharloth und der Vortrag von Heinrich Detering „Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten“ im Internet: 

www.scharloth.com

 www.zdk.de

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