© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/19 / 18. Januar 2019

Nimmermüde im Predigtdienst
Hypermoralismus als Politikersatz: Neues vom Friedenspreisträger-Paar Jan und Aleida Assmann
Wolfgang Müller

Mit 2018 dürfen die Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann zufrieden sein. Goldene Hochzeit gefeiert, den hoch dotierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten, damit nicht nur symbolisches Kapital aufgestockt, drei neue Manuskripte zum Druck befördert, pünktlich zur Frankfurter Zeremonie vorgelegt, vom Feuilleton der „Qualitätspresse“ wie üblich einhellig gelobt worden. 

Warum stehen diese Glückskinder in so hoher Gunst des Zeitgeistes? Welche Orientierungs- und Sinnbedürfnisse befriedigt ihre Produktion derart perfekt, daß sich Kritik nur in Organen der Gegenöffentlichkeit zu Wort meldet, in dieser Zeitung (JF 42/18) oder kürzlich in Tumult (Heft 4/2018), wo Thomas Neumann die jüngste der zahllosen Auszeichnungen der Assmanns als weiteren Etappensieg des Establishments im „Kampf um die kulturelle Hegemonie über die offizielle deutsche Erinnerungskultur“ interpretiert.

Will man nicht wie Neumann nach Antworten auf diese Fragen in jenen älteren Texten suchen, die inzwischen entweder als Standardwerke kulturwissenschaftlicher Erinnerungstheorie gelten oder die sie, wie Aleida Assmanns „Schattenbuch“ („Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik“, 2005), ideologisch ausmünzen, dann geben auch ihre jüngsten Erzeugnisse hinreichend Auskunft. In Aleida Assmanns beiden, One World-„Lehren aus der Geschichte“ verheißenden, sich teilweise überschneidenden, auf die Buchmesse zu in fliegender Hast hingeschluderten Broschüren sogar in derart plump bisher nicht riskiertem Agitationsstil. Während der Ägyptologe Jan Assmann mit seiner weite Horizonte aufspannenden Untersuchung des geschichtsphilosophischen Konzepts „Achsenzeit“ zwar dasselbe kosmopolitische Anliegen verfolgt, der „globalisierten Menschheit“ eine „normative Vergangenheit“ zu erschließen, es aber wie gewohnt mit respektabler Gelehrsamkeit panzert.

Rückgriff auf Karl Jaspers Epoche der Achsenzeit

Was ist die Achsenzeit? Eine um die Mitte des ersten Jahrtausends vor Christi Geburt angesetzte Epoche, die der moderne Mensch wohl getrost Spezialisten der Altertumswissenschaften überlassen darf? Das Inhaltsverzeichnis, das zwölf Kapitel  über – Hegel, Karl Jaspers sowie vielleicht Alfred Weber und Eric Voegelin ausgenommen – vergessene Forscher mit teilweise exotischen Namen wie Abraham-Hyancinthe Anquetil-Duperron, Jean-Pierre Abel Rémusat oder Victor von Strauß  und Torney avisiert, weckt zumindest den Verdacht einer exklusiv an des Verfassers Kollegen im Elfenbeinturm adressierten Einladung zur Gegenwartsflucht.

Der jedoch endgültig verfliegt, wenn der Leser sich bis zum Herzstück des Bandes durchgebissen hat, dem 60seitigen Kapitel  über den Heidelberger Philosophen Karl Jaspers (1883–1969). Mit der moralischen Autorität des NS-Verfolgten versehen, stieg der seit 1948 von Basel aus wirkende linksliberale Denker, auch er ein Friedenspreisträger (1958), spät zum Praeceptor Germaniae auf, der publizistisch gegen Wiederbewaffnung, Atomrüstung, den Schlußstrich in der „Schuldfrage“ und die „Restauration“ im Adenauer-Staat intervenierte. Indes hatte er mit diesem auf Westdeutschland konzentrierten Engagement seine ehrgeizigen pädagogischen Ambitionen bereits gemäßigt. Denn in der Arbeit, auf die es Assmann ankommt, „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“  (1949), wollte Jaspers noch der Weltöffentlichkeit, wenigstens aber den Europäern Wege in eine lichtere Zukunft weisen. Eben dafür empfahl er den Rückblick auf die Achsenzeit. 

Auf der Suche nach der „Urreligion“ der Menschheit stach dem Pariser Orientalisten Anquetil-Duperron (1731–1805) als erstem das Phänomen gleichzeitig um 500 v. Chr. in unterschiedlichen Kulturkreisen hervortretender großer Geister ins Auge. Grob taxiert waren Konfuzius und Laotse in China, Buddha in Indien, Zarathustra in Persien, die alttestamentlichen Propheten Israels sowie die Tragiker und Philosophen Griechenlands Zeitgenossen. Jaspers deutete diese Koinzidenz als Konvergenz und welthistorische Zäsur. Erstmals kündige sich mit diesen geistigen „Durchbrüchen“ hin zu Reflexivität, Rationalität, Monotheismus, im Fortschreiten vom „Mythos zum Logos“, die Einheit der Menschheit als Möglichkeit an. Im 20. Jahrhundert, nach zwei Weltkriegen, verpflichte deshalb das Studium der Achsenzeit, diese Einheit endlich umfassend herzustellen. Mittels „grenzenloser Kommunikation“ und dem Aufbau supranationaler Strukturen bis hin zur Gründung des den Weltfrieden garantierenden Weltstaates. Als handfeste Konsequenz aus dieser Vision empfahl Jaspers den nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs ohnehin von den USA und der UdSSR dominierten Europäern, die nationalstaatliche Konkurrenz zu beenden, Abschied vom imperialistischen, kolonialistischen Eurozentrismus zu nehmen und ihre Ressourcen sinnvoller zu verwenden, um sich realpolitisch wie „geistig zu globalisieren“.

Haltungsjournalismus statt Wissenschaft

Wem diese im Rückgriff auf Jaspers’ Achsenzeit propagierte globale Kommunikationsgemeinschaft bekannt vorkommt, irrt nicht. Assmanns Hausheiliger ist Jürgen Habermas, der als dezidierter Jaspers-Epigone neuerdings den ideologischen Mehrwert der Achsenzeit-Erzählung zu schätzen wisse; gleichsam als Vorwegnahme seiner „universalistischen Diskursethik“. Die wiederum nur der globalistisch aufgepeppte Humanitarismus der europäischen Aufklärung und deren Leitidee vernünftiger „Erziehung des Menschengeschlechts“ (Lessing) ist, die suggeriert, alle Interessenkonflikte, alle Machtfragen könnten in „interkulturellen Gesprächen“ während der „ewigen Teestunde“ („Alice in Wonderland“) aus der Welt (ex-)„kommuniziert“ werden.

Zeugt Jan Assmanns gutmenschlich-weltbürgerlicher Illusionismus einmal mehr von realitätsblinder Zerstreutheit des typisch deutschen Professors, so ist sein „Achsenzeit“-Modell, dessen geschichtspolitische Tauglichkeit er übrigens redlicherweise kulturanalytisch als ahistorisches Konstrukt kräftig relativiert, fernab ihrer tendenziösen globalistischen Schlagseite doch immerhin als bildungshistorische Bereicherung zu goutieren. Was niemand von den neuen Büchlein seiner Frau behaupten dürfte. Bereits die Dedikation eines der Pamphlete, das von ihrem „europäischen Traum“ kündet, stellt klar, daß den Leser nicht Wissenschaft, sondern Haltungsjournalismus erwartet: „Das Buch ist den Trägern und Stützen der Willkommenskultur gewidmet.“

Solcher Bekenntniseifer ist protestantisches Familienerbe der 1947 geborenen Autorin. Ihr Großvater väterlicherseits war Superintendent in Sachsen, dessen Sohn, Günther Bornkamm, ein Heidelberger Theologiedozent, der während der NS-Zeit die Universität verließ. Der zelotische Furor seiner Tochter zielt gegen jene, die sie als Widersacher des rechtgläubigen Kosmopolitismus identifiziert, Verteidiger des Nationalstaats und andere „Populisten“. Die würden sich vergeblich gegen Globalisierung und Migration stemmen. In deren singulärer Dynamik erkennt die so hypermoralische wie weltfremde Welterklärerin, die ihr Politikverständnis allein aus den Relotius-Medien bezieht, das abstrakt Gute, das mit naturgesetzlicher Präzision auf die „humane, gerechte, anständige Gesellschaft“ zueile. 

Wenn daher ein „Staatsvolk“, das sich ja nicht einfach „austauschen“ lasse – hier ist die Dampfplauderin noch nicht auf der Höhe New Yorker und Brüsseler Umsiedlungsplanungen –, dies nicht akzeptiere, „müssen“, im Sinne der „Anregungen“ des UN-Migrationspakts, „Medien, Künstler, Wissenschaftler, Zivilgesellschaft“ den „nachhaltigen gesellschaftlichen Mentalitäts- und Identitätswandel“ forcieren. Deshalb „muß“, wie die Expertin für kollektives Gedächtnis vorschlägt, die nationale der europäischen, auf Auschwitz fixierten Erinnerungskultur weichen. Zwischen „Charakterwäsche“ (Caspar von Schrenk-Notzing) und Orwellscher Gehirnwäsche sind bei diesem als „Generationenprojekt“ ausgelegten totalitären Umerziehungsexperiment die Übergänge fließend. Einmal im Delirium, mündet ihr „europäischer [Alp-]Traum“ letztlich in der Phantasmagorie, ausgerechnet die Brüsseler Kommission, ein hochtourig laufender Motor der Globalisierung, könnte die EU als Alternative zum „entfesselten neoliberalen Kapitalismus“ umgestalten.

Jan Assmann: Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, C. H. Beck, München 2018, gebunden, 352 Seiten, 26,95 Euro

Aleida Assmann: Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte. C. H. Beck, München 2018, broschiert, 208 Seiten, 16,95 Euro

Aleida Assmann: Menschenrechte und Menschenpflichten. Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft, Picus Verlag, Wien 2018, gebunden, 190 Seiten, 22 Euro