© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/19 / 18. Januar 2019

Der Kampf gegen Volk, Nation und Staat
Endspiel um Deutschland
Peter Kuntze

Bis heute leiden Deutschlands Linke und ihre linksliberalen Sympathisanten an zwei Traumata, die sie im letzten Jahrhundert erlitten haben: Von 1933 an stand eine Mehrheit des Volkes hinter einer rechten Diktatur und hielt ihr fast bis zum bitteren Ende die Treue; ab 1949 ertrugen die meisten Mitteldeutschen nur widerwillig eine linke Diktatur, die schließlich 1989 durch eine friedliche Revolution gestürzt wurde, was obendrein – horribile dictu! – zur nationalen Wiedervereinigung führte.

Der Schock dieser historischen Niederlagen hat bei Linken und Linksliberalen eine panische Angst vor dem eigenen Volk ausgelöst und begründet ihr tiefes Mißtrauen gegen die Nation und ihren Staat, das sich bis zum blanken Haß steigern kann. Bereits in den achtziger Jahren, als es erstmals um Zuwanderung und Asyl ging, artikulierten Grüne wie Claudia Roth Wut und Verachtung mit der flehentlichen Bitte: „Ausländer, laßt uns mit diesen Deutschen nicht allein!“ Radikale Linke perhorreszieren bis heute ihr Heimatland als „mieses Stück Scheiße“ und wünschen es mit dem Fluch „Deutschland verrecke!“ in den Orkus der Geschichte. Nähme der Staat seine Gesetze in bezug auf beide politischen Extreme ernst, hätte er derartige Parolen und die ihnen entspringenden Handlungen längst als Rassismus und Volksverhetzung ahnden müssen.

Zur Überwindung ihrer nationalen Traumata bedient sich die Linke, unterstützt von den intellektuellen Begleitkompanien in den Feuilletons, seit Jahren zweier Strategien: Die SED-Herrschaft wird schöngeredet und jeder Vergleich mit dem Nationalsozialismus, wie er einer antitotalitären Betrachtungsweise einzig angemessen wäre, entrüstet zurückgewiesen; zugleich wird der Mythos des antifaschistischen Widerstands beschworen und das Dritte Reich mit dem Stigma „Epoche der Barbarei“ pauschal abqualifiziert, was zwar dem schlimmen Schicksal der zahllosen Opfer entspricht, den Erfahrungen vieler deutscher Zeitgenossen aber völlig zuwiderläuft. In seinen „Anmerkungen zu Hitler“ resümierte Sebastian Haffner angesichts der innen- und außenpolitischen Erfolge des Regimes für das Jahr 1939: „Die so durch den Augenschein Hitlerscher Leistungen Bekehrten oder Halbbekehrten wurden im allgemeinen keine Nationalsozialisten; aber sie wurden Hitleranhänger, Führergläubige. Und das waren auf dem Höhepunkt der allgemeinen Führergläubigkeit wohl sicher mehr als neunzig Prozent aller Deutschen.“

Demgegenüber wurde im Zuge der Achtundsechziger-Revolution den spätestens ab 1935 Geborenen eingeredet, ihre Eltern und Großeltern seien Verbrecher gewesen, mindestens aber Wegbereiter und Mitläufer von Massenmördern. Diese moralische Überheblichkeit und der Widerstand post festum, der in der bundesrepublikanischen Gegenwart nichts als wohlfeile Pose ist, haben als anachronistische Erzählung das Deutungsmonopol hinsichtlich der NS-Ära gewonnen und zu einem Geschichtsbild geführt, das den Hoffnungen auf Auslöschung von Volk und Nation mächtigen Auftrieb gibt.

Der „Futuristische Entwurf für europäische Grenzenlosigkeit“ schlägt vor, die EU-Bürger sollten ihren Raum mit jenen Menschen teilen, die nach Europa wollen. So könnten Neu-Aleppo und Neu-Kundus für Flüchtlinge aus Syrien oder

Afghanistan entstehen.

Die Chancen auf Erfüllung stehen nicht schlecht, denn derartige Bestrebungen sind längst nicht mehr auf Deutschland beschränkt. Ausgehend von Denkschulen primär in den USA, hat sich in den letzten Jahren im Westen eine mächtige ideologische Strömung entwickelt, die nach dem Zusammenbruch des Ostblock-Sozialismus das Neue Jerusalem in der Vision einer universalen Gesellschaft freier und gleicher Menschen sieht – einer multikulturellen Welt ohne Nationen, ohne Staaten, ohne Grenzen.

Zur Spielwiese für das utopische Experiment haben seine hiesigen Verfechter EU-Europa erkoren. So gab Robert Habeck, Co-Vorsitzender der Grünen, im Vorfeld der Wahl zum Europäischen Parlament im Mai 2019 auf dem Leipziger Parteitag am 11. November die Devise aus: „Ein Europa der Vaterländer ist kein Europa; es ist die Zerstörung von Europa. Nationalisten können nicht solidarisch sein.“ In Frankreich hat mittlerweile Präsident Emmanuel Macron das postnationale Zeitalter ausgerufen. Wie der Althistoriker Egon Flaig in der Zeitschrift Tumult (1/2018) berichtete, habe Macron erklärt, es gebe keine „französische Kultur“, sondern nur eine „Kultur in Frankreich“. Damit habe auch er sich die globalistische Ideologie zu eigen gemacht.

In eine ähnliche Richtung denkt Herfried Münkler, wie aus seinem Beitrag für den Sammelband „Staatserzählungen“ (Rowohlt-Verlag, Berlin 2018) hervorgeht. Die großen Europa-Erzählungen, in denen sich die Nationen erkannt hatten, sind für den Historiker nicht zukunftsfähig; sie hätten die beiden Weltkriege nicht verhindert, sondern sie wegen des ethnisch verstandenen Heroismus sogar ausgelöst. Nicht nur Deutschland, alle europäischen Staaten müßten daher die „nationalen Opfernarrative“ hinter sich lassen zugunsten einer „Global Player-Erzählung Europas“. Tilman Allert, Professor für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt, hält nichts von diesen Überlegungen: Für nationale Gemeinschaften, deren kollektives Gedächtnis an je partikulare Erfahrungsbestände anschließe, liefere das Angebot, sich als „Global Player“ zu verstehen, eher Konfusion als Identifikation, erklärte er in einer Rezension vom 23. April 2018 für die Süddeutsche Zeitung.

Bereits im Februar 2016 hatte ein absurd anmutender Vorschlag für das „europäische Projekt“ die Runde gemacht. Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse (JF 3/19) und Ulrike Guérot, Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung, veröffentlichten in Le Monde diplomatique einen „Futuristischen Entwurf für europäische Grenzenlosigkeit“. Darin schlugen sie vor, die EU-Bürger sollten ihren Raum mit jenen Menschen teilen, die nach Europa wollen. So könnten Neu-Aleppo und Neu-Damaskus, aber auch Neu-Kundus und Neu-Erbil für Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und der Türkei mitten in Europa entstehen. Die Neubürger müßten sich nicht integrieren, sondern könnten gemäß ihrer hergebrachten Kultur leben.

Knapp drei Jahre später traten Menasse und Guérot, unterstützt von dem Schweizer Theatermacher Milo Rau, mit einer weiteren Initiative an die Öffentlichkeit. In einem Manifest behaupteten sie, der Reichtum Europas beruhe auf Jahrhunderten der Ausbeutung anderer Kontinente und der Unterdrückung anderer Kulturen: „Wir teilen deshalb unseren Boden mit jenen, die wir von ihrem vertrieben haben. Europäer ist, wer es sein will.“ Da das Europa der Nationalstaaten gescheitert sei, trete an deren Stelle ab sofort die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger. Am 10. November 2018 riefen daher zeitgleich um 16 Uhr in ganz EU-Europa Künstler und diverse „Aktivisten“ die „Europäische Republik“ aus. Diese symbolische Republik, hieß es, sei nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer „globalen Demokratie“.

Einige Monate zuvor hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für die Multikulturalisierung Deutschlands geworben – sozusagen als Modell im Kleinen. Im August 2018 lud er Bürger aus seiner Nachbarschaft zu einer türkisch-deutschen Kaffeetafel ins Schloß Bellevue. „Unser Land“, so Steinmeier, „ist für viele neue Heimat geworden, doch deshalb muß niemand seine Wurzeln verleugnen, denn Heimat, gefühlte und gelebte, die gibt es auch im Plural.“ Deutschland sei eine Gesellschaft der Vielfalt, daher gebe es „keine halben oder ganzen, keine Bio- oder Paßdeutschen“ (Süddeutsche Zeitung, 23. August). In seiner Weihnachtsansprache hat Steinmeier vor wenigen Wochen noch einmal diese Position bekräftigt, indem er postulierte: „Wir alle gehören zu diesem Land – unabhängig von Herkunft oder Hautfarbe, von Lebensanschauung oder Lieblingsmannschaft.“

Für Weltoffenheit und Toleranz, Vielfalt statt Einfalt, Bunt statt Braun, Liebe statt Haß, gegen Fremdenfeindlichkeit, Zusammenhalt statt Spaltung, Inklusion statt Ausgrenzung, Solidarität statt Nationalismus – all dies hat eine Orwellsche

Doppelbedeutung.

Schon vor Jahren hatten die Angriffe auf den Nationalstaat und sein jeweiliges kulturelles Erbe als dessen zivilisatorische Identität die höchste politisch-diplomatische Ebene erreicht: die Vereinten Nationen. Noch in der Amtszeit von Generalsekretär Kofi Annan war eine Kommission mit Experten aus neunzehn Ländern beauftragt worden, ein Konzept zur Lenkung der weltweiten Flüchtlingsströme zu erarbeiten. Bereits 2006 wurde ihr Bericht in seinen Kernelementen veröffentlicht. Nach mehrmaliger Überarbeitung und unter intensiver Mitarbeit der deutschen Regierung konnte die endgültige Fassung im Juli 2018 allen 193 UN-Mitgliedern vorgelegt werden, um als Migrationspakt (Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration) am 10. und 11. Dezember auf einer Konferenz in Marrakesch (Marokko) verabschiedet zu werden.

Daß dieser Pakt dazu angetan ist, die Souveränität der (europäischen) Nationalstaaten auszuhebeln und die Grenzen zu beseitigen, um ihr Hoheitsgebiet langfristig in Siedlungsgebiete für Migranten aus verschiedenen Kulturkreisen umzuwandeln, ist keine Verschwörungstheorie: Den prosperierenden westlichen Zielländern der Migranten stellte die Kommission das unausweichliche Ende vor Augen, weil „die Vorstellung eines vom sozialen und ethnischen Gesichtspunkt her gesehen homogenen Nationalstaates mit einer einheitlichen Kultur immer mehr als überholt angesehen“ werden müsse (zitiert von Tomas Spahn am 3. November 2018 auf dem Blog tichyseinblick.de).

Als handle es sich um eine Art Massentourismus, suggeriert der UN-Pakt, das Gros der Migranten begebe sich freiwillig auf Wanderschaft, um im Ausland einen qualifizierten Arbeitsplatz zu finden. In Wahrheit entfliehen die meisten der Misere ihrer Heimatländer – nicht zuletzt in der Hoffnung, im reichen Westen der Segnungen dortiger Sozialsysteme teilhaftig zu werden. Zwar erwähnt der Pakt Überbevölkerung und Umweltprobleme als Migrationsgründe, schweigt aber über deren Hauptursachen: Mißwirtschaft, Korruption und Kriminalität haben mehr als ein halbes Jahrhundert  nach der Entkolonialisierung viele Staaten in den Ruin getrieben. Hinzu kommen Bürgerkriege, häufig ausgelöst durch Interventionen westlicher Demokratien („Regime change“) wie im Irak, in Afghanistan und Libyen. Auf diese Probleme gehen die Verfechter des Multikulturalismus indes nur am Rande ein; statt dessen nehmen sie die Aufnahmeländer ins Visier, denen sie „weißen Rassismus“ gegenüber Zugewanderten vorwerfen.

Wie man sieht, sind die Wege, Volk, Nation und Staat zu überwinden, vielfältig. Wer indes das Ziel erkannt hat, weiß die wohlfeilen Vokabeln und Parolen richtig einzuschätzen: Für Weltoffenheit und Toleranz, Vielfalt statt Einfalt, Bunt statt Braun, Liebe statt Haß und Hetze, gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, Zusammenhalt statt Spaltung, Inklusion statt Ausgrenzung, Solidarität statt Nationalismus – all dies hat eine Orwellsche Doppelbedeutung und soll mit seiner verschleiernden Begrifflichkeit der Multikulturalisierung erst des eigenen Landes, dann Europas und schließlich der ganzen Welt den Weg ebnen. 






Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Deutschlands neue nationale Frage („Kampf um die Herkunft“, JF 26/18).

Foto: Schauspielerinnen des Hamburger Thalia-Theaters rufen bei einer Kunstperformance am 10. November 2018 vom Balkon des Hauses eine „Europäische Republik“ aus: Die zivilisatorische Errungenschaft des Nationalstaats wird bedenkenlos verschleudert