© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/19 / 18. Januar 2019

Ein kurzer bolschewistischer Völkerfrühling
Als sich Weißrußland der sowjetischen Revitalisierung seiner Kultur verweigerte
Oliver Busch

Nicht auf das Europa der Vaterländer, sondern auf deren Verschwinden im supranationalen Bundesstaat zielt der Kurs der Brüsseler Bürokratie. Neben markanten Unterschieden, sind Parallelen zur 1990 untergegangenen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken tatsächlich leicht zu entdecken: die universalistische Ideologie, der autokratische Zentralismus, die tendenzielle Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, das Fehlen demokratischer Legitimation. 

Für das erste Jahrzehnt der bolschewistischen Herrschaft läßt sich dieser Vergleich allerdings historisch glatt widerlegen. Denn die Sowjetunion war der erste Staat der Erde, der seine ethnischen Minderheiten planmäßig förderte. Die Bolschewiki verstanden sich sowohl als Befreier der Arbeiter und Bauern, als auch als Erlöser der im Zarenreich unterdrückten nichtrussischen Völker. Die westliche Osteuropa-Forschung hat dieses Phänomen nach der Implosion des Sowjetimperiums weitgehend aufgeklärt. Mit einigen Ergebnissen ist jedoch der gerade in Princeton promovierte Historiker Jonathan Rasp nicht einverstanden. 

Am Beispiel Weißrußlands versucht er daher Korrekturen vorzunehmen, die zugleich Einblicke in die chaotischen Zustände gewähren, die im Gesamtstaat auch nach dem Ende der Bürgerkriegsphase herrschten (Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 2/2018). Rasp nennt pragmatische Gründe, warum Universalisten, die von der Weltrevolution und dem globalen Paradies aller Werktätigen träumten, sich zugleich als Bewahrer nationaler und kultureller Autonomie gerierten. Primär beugten sie sich dem Diktat politischer Not. Um den Sozialismus in die Provinz und die Peripherie zu bringen, habe man diese in den Sozialismus integrieren müssen. Dafür mußten Zugeständnisse gerade in Gebieten mit überwiegend nichtrussischer Bevölkerung gemacht werden. 

Insoweit sei die sowjetische Nationalisierungs- und Indigenisierungspolitik ein bis Ende der 1920er anhaltender Versuch gewesen, die Überreste des Zarenreiches „in den Griff zu kriegen“. Richard Pipes, Altmeister der Sowjetforschung, erklärte dies damit, daß Lenin und Stalin die nichtrussischen Völker so lange an der langen Leine lassen mußten, wie die innere Schwächephase des Regimes dauerte. Dann brach Stalin „das nationale Experiment“ abrupt ab, und die Repressionen gegen Nationalkommunisten sowie nichtrussische gesellschaftliche Eliten bildeten ab 1930 die erste Stufe des Terrors der großen „Säuberungen“.

In der Ukraine, im Kaukasus und in Zentralasien schlug das „nationale Experiment“ fehl, weil es aus Sicht Moskaus in Nationalismus mündete, Unabhängigkeitsgelüste begünstigte und so zentrifugale Prozesse auslöste, die den Zusammenhalt der Union unterminierten. In Weißrußland, das als Sowjetrepublik im Sommer 1920, mitten im Polnisch-Sowjetischen Krieg, entstand, endete die Nationalisierung jedoch nicht, weil sie so gefährlich erfolgreich war, sondern weil der Erfolg der „Weißrussifizierung“ ausblieb. Weite Teile der Bevölkerung entzogen sich der Mobilisierung über vorgefertigte nationale Kategorien. Die mit einer Bildungsoffensive in dem zu vierzig Prozent Analphabeten (1926) aufweisenden Land einhergehende nationale Identitätsstiftung scheiterte, weil sich Bevölkerung und Elite der bolschewistisch revitalisierten weißrussischen Kultur und Sprache kurioserweise zugunsten des Russischen verweigerten.