© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/19 / 18. Januar 2019

Mit rasanter Geschwindigkeit in den Abgrund
Senckenberg-Wissenschaftler analysieren Landverbrauch, Artensterben und Klimawandel
Christoph Keller

Anläßlich der UN-Klimakonferenz in Kattowitz (CO24) wurde die Zukunft der Erde in düsteren Farben gemalt: schmelzende Gletscher, brennende Wälder und trockene Flüsse. Die kommende Heißzeit sei nur zu verhindern, wenn Mitgliedstaaten ihre Klimaschutzanstrengungen verstärkten und schnell den Ausstieg aus fossilen Energien einleite. Die 13. Konferenz des Weltbiodiversitätsrats (Ipbes), die einen Monat zuvor in Scharm El-Scheich auf der Sinai-Halbinsel stattfand, stellte dem Patienten Erde diesmal keine ganz so deprimierende Diagnose wie üblich. Man gab sich sogar vordergründig hoffnungsfroh, weil die selbstgesteckten Ziele, bis 2020 zehn Prozent der Land- und siebzehn Prozent der Meeresflächen als Schutzzonen auszuweisen, wohl annähernd zu erreichen seien.

Solcher Zweckoptimismus ist offenbar nötig, um die sich ausbreitende Frustration unter den im Ipbes engagierten Wissenschaftlern einzudämmen, die ursprünglich doch angetreten sind, um den „umweltpolitischen Entscheidungsträgern“ dieser Welt „Handlungsoptionen“ im Kampf gegen die Vernutzung und Verwüstung der Erde aufzuzeigen, ohne jedoch auf die erwünschte Resonanz gestoßen zu sein. Auch in den luxuriösen Konferenzsälen am Roten Meer tat sich wieder eine tiefe Kluft zwischen dem wissenschaftlich Erforderlichen und dem politisch Durchsetzbaren auf. Lagen doch schon jene alarmierenden Daten vor, die auf dem Ipbes-Plenum im April und Mai in Paris den Mitgliedstaaten der Konvention präsentiert werden sollen, um sie zu weiteren Anstrengungen zum Schutz der Biodiversität zu verpflichten.

Die ökologische Vielfalt ist akut gefährdet

Die Reporte, um die es in Paris gehen wird, sind erstens der fast tausendseitige „Assessment Report on Land Degradation and Restoration“. Er bietet Prognosen, wie sie düsterer nicht sein könnten. Gingen Landverbrauch und Bodenzerstörung in dem Tempo wie bisher weiter, könnten bis 2050 mindestens 50, schlimmstenfalls 750 Millionen Menschen gezwungen sein, ihre Heimat zu verlassen. Und zweitens der vordringlichere „Global Assessment Report on Biodiversity und Ecosystems Services“, an dessen Europa und Zentralasien umfassendes Kapitel 150 internationale Forscher unter der Federführung des Berner Pflanzenökologen Markus Fischer vor kurzem letzte Hand anlegten.

Die Kernaussagen dieses Berichts, der einen bedenklichen europäisch-asiatischen Istzustand beschreibt, hat Fischer für die Frankfurter Senckenberg Gesellschaft zusammengefaßt (Senckenberg, 10-12/18). Demnach ist die ökologische Vielfalt Europas und Zentralasiens akut gefährdet. Das zeige sich erst unterhalb der Ebene von „Symbolarten“, auf die sich die mediale Aufmerksamkeit gewöhnlich richtet, die sich etwa auf die Wiederansiedlung des Wolfes oder Bruterfolge von Seeadlern konzentriert. Nahezu unsichtbare Pflanzen- oder unscheinbare bis „eklige“ Tierarten hingegen fänden selten Interesse. Dabei lägen hier die Brennpunkte des Artensterbens. Moose und Lebermoose seien seit 1970 um die Hälfte zurückgegangen, Gefäßpflanzen um 33, Süßwasserfische um 37, Süßwasserschnecken um 33, Amphibien um 23 Prozent. Kein Wunder, denn Feuchtgebiete gebe es nur noch halb so viele wie vor 50 Jahren, und auch die Qualität natürlicher und naturnaher Grasflächen, von Torfmooren, Küstenregionen und ozeanischen Lebensräumen habe seitdem stark abgenommen.

Die Artenzusammensetzung von Biotopen zu Wasser und zu Lande werde immer gleichförmiger, ihre Gesamtdiversität nehme stetig ab. Gleichzeitig gehe es mit den gebietsfremden invasiven Arten in allen Teilregionen des Untersuchungsgebietes rapide bergauf, so daß sich die biologische Vielfalt und die Ökosystemleistungen „dadurch massiv verändern werden“.

Flächenfraß durch Urbanisierung

Selbstverständlich gebe es auch Lichtblicke. Einige Natur- und Artenschutzmaßnahmen zeigen nach Jahrzehnten Wirkung. So seien „Nachhaltigkeitsüberlegungen“ etwa in die EU-Fischwirtschaft eingezogen. Das habe zu einem schonenderen Umgang mit marinen Ressourcen und geringeren Nährstoffeinträgen geführt. Freuen sollte man sich daher über wachsende Fischbestände in der Nordsee, ohne negative Entwicklungen in der Ostsee und im Mittelmeer deswegen zu verdrängen.

An den Hauptursachen für die insgesamt kritische Lage an der Biodiversitäts-front, der Intensivierung der Land- und Forstwirtschaft sowie dem Flächenfraß durch Urbanisierung (JF 31/18) ändere sich kaum etwas. Die Bevölkerung Europas und Zentralasiens verbrauche weiterhin mehr nachwachsende Rohstoffe als sie produziere, wie die Nahrungs- und Futtermittelimporte zeigen, die einer Jahresernte von 35 Millionen Hektar Ackerfläche entsprechen, also ungefähr dem Territorium der Bundesrepublik. Der ungebrochene Produktionsanstieg diesseits und jenseits des Großraums zwischen Dublin und Wladiwostok verschlechtere daher den ökologischen Zustand naturnaher Räume im Stundentakt. Fischers Kollege Matthias Nuß unterstreicht die grobe Skizze des Pflanzenökologen mit einigen Daten zur Bestandsentwicklung bei den 33.500 deutschen Insektenarten.

Wobei die plakative Überschrift „Das großen Sterben“ die in letzter Zeit lauter hörbaren kritischen Stimmen zum Thema ostentativ ignoriert. So übergeht Nuß die methodologischen Einwände, denen sich 2017 die „Krefelder Studie“ ausgesetzt sah, die für den Zeitraum zwischen 1989 und 2016 den exorbitanten Rückgang der Insektenbiomasse auf durchschnittlich 76 Prozent beziffert (JF 44/17). Ebenso unbeachtet bleiben Vorbehalte gegen dehnbare, daher umstrittene Einstufungen in den „Roten Listen“.

Hierzu tobt in Sachen „Bienensterben“ mittlerweile ein Deutungskampf, der Züge eines Glaubenskrieges trägt. Naß räumt für die Insekten immerhin ein, daß die Bearbeitung der Artengruppen von der Verfügbarkeit von Spezialisten abhänge. So wurden erst 25 Insektengruppen bearbeitet, die 7.389 Arten umfassen, von denen wiederum 41 Prozent auf die Rote Liste gelangten, unter denen jedoch nur 6,4 Prozent als „vom Aussterben bedroht“ gelten. Gleichwohl verzichtet Nuß, der sich primär auf noch nicht bezweifelte Beispiele für Rückgänge bei den Tagfaltern stützt, nicht darauf, vom „großen Sterben“ zu trompeten.

Wie andere Beiträge zu diesem Schwerpunktheft der Senckenberg Gesellschaft, die des Geologen Peter Königshof zu „Biodiversität und Klimawandel in der Erdgeschichte“ und die der Botaniker Matthias Schleuning und Christian Hof zum „Klimawandel-Dominoeffekt“ nahelegen, ist die Erforschung der Ursachen des Artensterbens noch derart im Fluß, daß sich voreilige Zuschreibungen eigentlich verbieten. Trotzdem glauben die Frankfurter Wissenschaftler ihre Warnungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bringen zu können, wonach sich die Klimaveränderung und in deren Folge das Artensterben wie „nie zuvor in der Erdgeschichte in derart rasanter Geschwindigkeit vollzogen“ habe.

Frankfurter Wissenschaftsmagazin Senckenberg. Natur-Forschung-Museum, 10-12/18:

 www.senckenberg.de

Übereinkommen über die biologische Vielfalt:

 www.cbd.int/

 www.biodiv.de/





Weltbiodiversitätsrat (Ipbes)

Der Weltbiodiversitätsrat (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services/Ipbes) wurde 2012 von 94 Regierungen auf einer Umweltkonferenz in Panama City gegründet. Der Sitz des Ipbes-Sekretariats befindet sich in Bonn, auch die erste offizielle Plenarsitzung im Januar 2013 fand in der Bundesstadt statt. Aktuell sind 132 der 193 UN-Staaten Ipbes-Mitglieder. Die EU-Länder Italien, Malta, Polen, Slowenien und Zypern oder Länder wie Island, Kasachstan, Katar, Singapur oder die Ukraine sind bislang nur Ipbes-Beobachter. Der Weltbiodiversitätsrat agiert unter der Schirmherrschaft der vier UN-Organisationen Unep (Umweltprogramm), Unesco (Bildung, Wissenschaft und Kultur), FAO (Welternährungsorganisation) und UNDP (Entwicklungsprogramm). Kernaufgabe des Ipbes sei „die Erstellung von Berichten über den aktuellen Zustand und Wissensstand zu Biodiversität und Ökosystemleistungen“, erläutert das Bundesministerium für Umwelt und Naturschutz.

7. Ipbes-Plenum vom 29. April bis 4. Mai:  www.ipbes.net/