Manchmal erzählen kleine, alte Lieder ganz viel Wahrheit von der großen Politik, man muß nur gut zuhören. Das kleine, alte Lied, das eine Menge über große, moderne britische Politik aussagt, heißt „Rule, Britannia!“ und stellt so etwas wie die inoffizielle Nationalhymne der Briten dar. Die Musik von einem zweitklassigen Singspiel-Komponisten ist die Imitation einer Händel-Arie, die an ihre Vorbilder in keinem Takt heranreicht. Der Text ist kaum besser: ein leiernder jambischer Vierheber von einem gescheiterten Theologen aus Schottland, der nach London gegangen war, um mit patriotischen Versen Geld zu verdienen.
Aber Texte, die ganze Völker hundert und mehr Jahre voller Inbrunst singen, das weiß man von der „Marseillaise“ oder „America the Beautiful“, müssen keine dichterischen Meisterwerke sein. Sie müssen nur etwas ausdrücken, das die Massen tief bewegt. Und das tut „Rule, Britannia!“ seit 1740, denn trotz zahlreicher Versuche beispielsweise der BBC, das Lied aus den Programmen von Konzerten und Radioanstalten zu verbannen, ist dies am empörten Widerstand der Briten jedesmal gescheitert.
Was gefällt den Briten nun so gut an ihrer inoffiziellen Nationalhymne? Einmal ist das der Refrain, der so geht: „Rule, Britannia! rule the waves! Britons never will be slaves.“ (Herrsche, Britannien, über die Wogen herrsche, niemals werden Briten Knechte sein.) Was hier so selbstverständlich daherkommt, ist in Wahrheit eines der großen Themen der britischen Geschichte: die eigene Vergangenheit als seefahrende Nation; die Erinnerung daran, daß die Royal Navy vom Untergang der spanischen Armada 1588 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die sieben Meere beherrschte; das Bewußtsein, daß über einem Viertel der Erdoberfläche, von Kanada bis Neuseeland, von der Antarktis bis Helgoland, einmal die britische Fahne wehte.
Das zweite Thema, das in „Rule, Britannia!“ anklingt, ist die Einzigartigkeit der britischen Nation, die, selbst demokratisch regiert, sich nie einem Tyrannen gebeugt hat: „The nations, not so blest as thee, Must, in their turns, to tyrants fall; While thou shalt flourish great and free, The dread and envy of them all.“ (Die Völker nicht so gesegnet wie du, müssen nacheinander Tyrannen unterliegen, während du groß und frei erblühen sollst, ihnen allen zu Neid und Furcht.)
Hätten all die britischen Politiker, die zwar das Referendum zum Brexit, nicht aber dessen Ergebnis wollten, beim Duschen öfter „Rule, Britannia!“ gesungen, dann wäre ihnen klargeworden, daß die ganze Angelegenheit in einem Debakel enden muß. Die Briten haben ihre glorreiche Geschichte nämlich nie vergessen. Sie wissen, daß ihr Empire längst in Trümmern liegt, aber sie wissen auch, daß es bis vor 70 Jahren noch existierte, was jetzt nicht so lange her ist. Ihnen ist bewußt, daß England der gewalttätigen Herrschaft absoluter Monarchen erst die Magna Charta, dann ein gewähltes Parlament und schließlich das Common Law entgegensetzte, was die Macht der Regierung einschränkte und das Ausmaß staatlicher Willkür begrenzte.
Die Engländer haben nicht vergessen, daß sie 143 Jahre vor den Franzosen einen König enthauptet haben, der glaubte, gegen das Parlament und ohne Verfassung regieren zu können. Und die Briten haben sich auch gemerkt, daß ihr Herzog von Wellington es war, der 1815 den größten europäischen Tyrannen seit Nero und Caligula erst besiegt und dann auf einer fernen Insel entsorgt hat, was die Grundlage für den hundertjährigen europäischen Frieden bis zum Ersten Weltkrieg darstellte.
Wären Politiker in Großbritannien wie in der EU in der Lage, Lehren aus der Geschichte zu ziehen und zwei und zwei zusammenzuzählen, dann hätte ihnen auffallen müssen, daß die Briten sich ungern von Tyrannen regieren lassen und der Bevormundung durch Europa seit jeher stolze Unabhängigkeit vorziehen, weshalb sie die Zeit zwischen 1822 und 1904, als Großbritannien sich aus der europäischen Politik komplett heraushielt, als „Splendid isolation“ bezeichnen.
Aber moderne Politiker ziehen keine Lehren aus der Geschichte, weil sie nicht daran glauben, daß über Geschichte in einem Diskurs à la Foucault geredet wird. Einem Diskurs, in dem Themen und Leitmotive, die eine Gesellschaft seit Jahrhunderten bewegen, hartnäckig überdauern und an seismischen Bruchpunkten – und das Schengen-Abkommen war für die Briten der Bruchpunkt schlechthin – jedesmal mit ungeahnter Vehemenz wieder aufleben. Die Politiker, die den Brexit herbeigeführt und ihre journalistischen Claqueure, die ihnen dabei stets applaudiert haben, wollten nicht wahrhaben, daß die Subjekte der Geschichte nicht atomisierte, weltweit austauschbare, geschichtslose „Akteure“ sind, die man beliebig von Polen, Rumänien oder Pakistan nach Sheffield, Birmingham und Liverpool versetzen kann, ohne daß sich dort etwas ändert – sondern Menschen, die ihren Rucksack aus Geschichte und Kultur schwer auf dem Rücken tragen und nie mehr loswerden.
Karl Mannheim hat in seiner maßgeblichen Schrift über den Konservatismus betont, daß konservative Denker im Gegensatz zu progressiven den Staat nicht als die Summe zersplitterter Einzelmenschen begreifen, sondern den Einzelnen als Teil einer organischen Totalität, die man Staat, Volk oder Nation nennt. Für progressive Politiker, Soziologen, Historiker und Journalisten sind Begriffe wie Volk und Nation semantisch leere Worte, die ihnen nur noch Schauer über den Rücken jagen.
Diese linguistische Inkompetenz rächt sich jetzt. Begriffe und das, worauf sie im echten Leben verweisen, verschwinden nicht einfach dadurch, daß man sie negiert – sondern leben im Gegenteil fröhlich weiter. So auch Staat, Volk und Nation und die aus ihnen gestiftete Identität, die breiten Schichten der Bevölkerung immer dann in den Sinn kommt, wenn sie längst verloren schien.
All den Wirten, Maurern, Metzgern, Kindergärtnerinnen, Kellnerinnen, Tischlern und Taxifahrern in Manchester, Bristol und Grimsby, die plötzlich mit Polen, Rumänen und Bulgaren konkurrieren mußten, die für weniger Geld mehr arbeiten, ist irgendwann aufgefallen, daß die Verschlechterung ihrer Verhältnisse etwas mit der Abschaffung der Grenzen in der EU zu tun haben muß. Woraus sie messerscharf schlossen: An meinen Problemen sind die Zuwanderer schuld. Und die sind nur hier, weil es die EU gibt. Sind wir nicht mehr in der EU sind, ist alles wieder wie früher.
Das ist ein allzu einfacher Schluß, aber einer, den man den Verlierern der Globalisierung, die die tektonischen Verschiebungen der großen Politik in ihrem kleinen Leben aushalten müssen, kaum vorwerfen kann. Den Initiatoren dieser großen Politik, allen voran die Premierminister Tony Blair und Gordon Brown, sehr wohl. Die hätten wissen müssen, was für eine Katastrophe sie ihrem Land einbrocken. Aber Blair wie Brown haben es immer mit dem ökonomischen Liberalismus und dem von diesem vorausgesetzten kultur- und geschichtslosen Homo oeconomicus und nie mit den Konstanten der eigenen Geschichte gehalten.
Nun ist die hilf- und glücklose Theresa May monomanisch dabei, die Suppe auszulöffeln, was ihr kaum gelingen wird. Ja, die Briten haben für den Brexit gestimmt, aber Gegner wie Befürworter haben die Rechnung ohne die sturen Wirte in Brüssel gemacht und ihr eigenes kapriziöses Parlament sträflich unterschätzt.
In Großbritannien ist der Fraktionszwang nur schwach ausgebildet. Die britischen Abgeordneten fühlen sich in erster Linie ihrem Wahlkreis verpflichtet – und erst dann der Partei. Ist also der eigene Wahlkreis mehrheitlich gegen den Brexit, dann stimmen auch die Abgeordneten dagegen, was der wahre Grund für Theresa Mays historische Abstimmungsniederlage war. Diese ist jetzt bereits ein totales Desaster, das das Potential hat, die Konservative Partei zu spalten und das Land in einen No-Deal-Brexit zu katapultieren, der – da soll sich keiner etwas vormachen – wesentlich schlimmer wäre als ein Verbleib oder ein geregelter Austritt mit Vertrag.
Das Drama um den Brexit, das der britische Economist jüngst als „Mutter aller Schweinereien“ (Mother of all messes) bezeichnet hat, ist ein leuchtendes Beispiel dafür, was passiert, wenn Politiker, die vom Leben ihrer Wähler meilenweit entfernt sind, zusammen mit EU-Bürokraten, die gar keinem Wähler verpflichtet sind, in Hinterzimmern Politik zusammenmauscheln, die die Geschichte ganzer Nationen ebenso wie das Leben normaler Menschen systematisch ignoriert. Irgendwann schlägt die amorphe Masse der kleinen, so lange ignorierten Leute zurück – und dann wird’s richtig „messy“, sprich chaotisch. Dann spült es lange vergessene, aber nie ganz tote Artefakte aus dem historischen Diskurs wieder an die Oberfläche, dann gewinnen Begriffe wie Vaterland, Patriotismus und Nationalbewußtsein wieder an Konjunktur und werden nun zielgerichtet gegen die EU, die von den Briten inzwischen als moderne Verkörperung der seit jeher verabscheuten Tyrannenherrschaft angesehen wird, in Stellung gebracht. Dann singen die Briten wieder laut und deutlich „Rule, Britannia!“ Hätten mehr Politiker ab und zu mitgesungen, dann wäre ihnen und ihren Bürgern vieles erspart geblieben.