© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/19 / 25. Januar 2019

Intro für die ethnischen Säuberungen
Vor hundert Jahren leiteten Slowenen mit dem „Marburger Blutsonntag“ erste völkisch inspirierte Vertreibungsaktionen ein
Heiko Piller

Noch während der letzten Tage des Ersten Weltkrieges wurde die damals zweitgrößte Stadt der Steiermark, Marburg an der Drau, von slowenischen SHS-Landsturmeinheiten unter Führung des damaligen k.u.k. Majors Rudolf Maister besetzt, Kommandant des Landsturm-Bezirkskommandos Nummer 26. 

Der 1874 geborene Maister kam aus einer ethnisch gemischten Beamtenfamilie aus der Untersteiermark, in der zu Hause jedoch stets deutsch geprochen wurde. Als Jugendlicher begann er, den aufkommenden slowenischen Nationalisten für sich zu entdecken und schrieb sich deshalb fortan auch Majster. Nach einer eher durchschnittlichen Offizierslaufbahn bekam er im Ersten Weltkrieg das heimatnahe Kommando. 

Als der Marburger Stadtrat in den Wirren des zusammenbrechenden k.u.k.-Reiches Ende Oktober 1918 die zu über achtzig Prozent deutsch besiedelte Stadt zum Bestandteil des künftigen Deutschösterreich erklärte, riß Majster die Kommandogewalt an sich und besetzte mit mehreren tausend slowenischen Freiwilligen im Laufe des Novembers 1918 Marburg und umliegende Orte wie Radkersburg, Spielfeld und Allstadt im Gebiet der slowenisch-deutschen Sprachgrenze. Majster setzte den gewählten Bürgermeister und den Stadtrat ab, entwaffnete die Polizei und die Anfang November gebildeten deutschen Volkswehreinheiten. Deren Angehörige wurden zusammen mit entlassenen deutschsprachigen Beamten Marburgs gewaltsam nach Norden vertrieben. Der Ende 1918 konstituierte slowenische Nationalrat in Laibach ernannte den selbstermächtigten „Stadtkommandanten“ deshalb kurzerhand zum General. Die ohnmächtige Wiener Zentralregierung konnte diesem Treiben nur tatenlos zusehen. 

Anders als in Kärnten, wo sich aus einem Abwehrwillen größere Freiwilligenverbände formierten (JF 3/19), protegierte in Graz die Landesregierung nichts in diese Richtung. Als rettender Ausweg erschien den Deutschösterreichern in der Untersteiermark daher eine US-amerikanische Delegation, die sich – ähnlich wie zuvor in Kärnten – ein Bild über die ethnischen Verhältnisse in der Region für die bevorstehenden Verhandlungen von Paris machen wollte.

Am 27. Januar 1919 verließ die US-Kommission Graz. Sie bestand aus Oberstleutnant Sherman Miles, Leutnant Le Roy King und den Professoren Robert Kerner und Lawrence Martin. Wie ein Lauffeuer sprach sich in Marburg herum, daß die Miles-Mission zu Mittag mit General Majster im „Volks-haus“ speisen werde. Da sich zur gleichen Zeit auch in der Stadt Radkersburg erfolgreicher Widerstand deutschösterreichischer Freiwilligenverbände formierte und zugleich die neu gegründete Republik Deutschösterreich das überwiegend deutschsprachige Gebiet der Untersteiermark beanspruchte, machte sich nun in der Stadt Unruhe breit. 

Die aufgrund der bisherigen Vertreibungsmaßnahmen verängstigten und eingeschüchterten Marburger ahnten, daß dies ihre letzte Chance sein könnte. Seit den Weihnachtstagen scheuten Majsters Truppen auch nicht mehr vor Morden an Zivilisten zurück. So standen am Sonntag, dem 27. Januar 1919, an die 10.000 Marburger Einwohner auf dem zentralen Hauptplatz und in den sich angrenzenden Straßen. Sie wollten gegenüber der ausländischen Kommission ihre Zugehörigkeit zu Deutschösterreich bekunden. Ganze Schulklassen standen trotz Schnee und Kälte inmitten ihrer Lehrer in der Menge. Die Menschen hatten schwarzrotgoldene Bänder an den Hüten, es erklangen nationale Gesänge. Angespornt durch ihre deutliche Überzahl kam es nun zu Sprechchören gegen die Besatzer. 

Soldaten feuerten in die wehrlose Volksmenge

General Majster, welcher mit ähnlichen Kundgebungen rechnete, hatte etwa zwanzig slowenische Wachposten mit aufgepflanztem Seitengewehr vor dem Rathaus aufmarschieren lassen. Doch als das Gedränge immer bedrohlicher wurde und auch noch ein slowenischer SHS-Soldat hinfiel, fielen plötzlich Schüsse. In Panik versuchten sich die Menschen in Sicherheit zu bringen, in ebensolcher Panik reagierten Majsters Wachposten. Sie waren mit der Situation völlig überfordert, mehrere Salven wurden von den Soldaten in die wehrlose Volksmenge gefeuert. Während dieser Zeit saß Majster immer noch zusammen mit der Miles-Kommission im Rathaus zu Tisch.

Die Wirkung dieses feindlichen Feuers war schrecklich. Es gab insgesamt 13 Tote und etwa 60 teils Schwerstverwundete. Als kurze Zeit später die US-Delegation aufbrach, war der Rathausplatz leer, da die Demonstration sich aufgelöst hatte, die Toten und Verwundeten hatten die slowenischen Soldaten schnellstens geborgen. Oberstleutnant Miles soll sich jedoch ob des gebotenen Anblicks des blutverschmierten Platzes tief erschüttert gezeigt haben. Daß seine Beobachtungen Auswirkungen auf die Grenzziehung nach dem Friedensvertrag von Saint Germain hatten, ist eher unwahrscheinlich. Zum einen war er primär Berichterstatter für den Kärntner Raum, andererseits wurde von seiten des jugoslawischen SHS-Staates umgehend der Marburger Blutsonntag umgedeutet. So sei der Schußwechsel auf dem Marburger Hauptplatz von Deutschösterreichern ausgegangen sein, worauf slowenische Wachposten nur reagiert hätten.

Das Resultat des Vertrags von Saint Germain im September 1919 ging zugunsten des SHS-Staates und der Milizen Rudolf Majsters aus. Für zehntausende Deutschösterreicher begann der Exodus, teils als Reaktion auf die massiven Diskriminierungsmaßnahmen, teils als gewaltsame Vertreibung. Von den knapp 80.000 deutschsprachigen Untersteirern lebten 1921 noch 21.500 in ihrer Heimat, zehn Jahre später nur noch etwas mehr als 12.000.