© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/19 / 25. Januar 2019

Eine Schreckenszeit als sowjetischer Mythos
Vor 75 Jahren endete die 900 Tage andauernde Belagerung Leningrads durch die deutschen und finnischen Truppen
Matthias Bäkermann

Bereits Mitte Januar 1944 konnte die Rote Armee zu Beginn ihrer „Leningrad-Nowgorod-Operation“ die deutschen Linien durchstoßen und damit auch den Belagerungsring um die Stadt an der Newa sprengen. Dennoch gilt der Abzug der letzten deutschen Belagerer am 27. Januar als das offizielle Ende der fast zweieinhalb Jahre zuvor, am 8. September 1941, beginnenden Blockade. Nach diesen 900 Tagen war die Bilanz verheerend, weit über eine Million Russen waren tot, die meisten davon Zivilisten, von denen wiederum mehrere hunderttausend an Hunger und Entkräftung elendig zugrunde gegangen waren. Bei den Nürnberger Prozessen 1946 sollten diese Opfer von den Sowjets als signifikanter Beleg aufgeführt werden, um die verbrecherische Kriegsführung der Wehrmacht anzuklagen.

Tatsächlich hatte Hitler in einem Führererlaß im Herbst 1941 angeordnet, daß kein deutscher Soldat in die Stadt vordringen sollte. „Die Stadt ist auszuhungern“, lautete der folgenschwere Befehl. Sowohl die Sowjets als auch spätere bundesdeutsche Historiker werten das als logischen Schritt in der Vernichtungsstrategie im Weltanschauungskrieg gegen die Sowjetunion und widersprechen damit der These, daß die Blockade statt einer Einnahme Leningrads die Konsequenz aus vorherigen Geschehnissen in Kiew gewesen sei, die es nun zu verhindern galt. In der nach blutigsten Häuserkämpfen eroberten ukrainischen Hauptstadt erlebten die Deutschen Mitte September 1941 wegen umfassend präparierter Sprengfallen ein tödliches Inferno.

Auch in der belagerten Stadt herrschte Schdanows Terror

Die Sowjets hatten zu diesem Zeitpunkt zumindest ins Kalkül gezogen, daß die siegreich vorrückende Wehrmacht auch in die Dreimillionenstadt an der Ostsee einrücken könnte. Über 40.000 Waggons brachten kriegswichtiges Material, Kunstschätze und ganze Fabriken ostwärts in Sicherheit, etwa 1,4 Millionen Menschen wurden evakuiert. Allerdings wurden auch Dutzende Divisionen der Roten Armee zur Verteidigung aufgeboten, so einfach sollten die „Hitler-Faschisten“ nicht in das „Jerusalem der bolschewistischen Revolution“ vordringen. Da die im Norden zwischen Ostsee und Ladogasee eingegrabenen finnischen Truppen bereits einen Sperriegel bildeten, konnten deutsche Truppen mit der Einnahme Schlüsselburgs am Südufer des Ladogasees die Stadt allerdings vollständig abriegeln. Damit begann ein Fiasko für die Zivilbevölkerung, das von Hitler in zynischer Weise kalkuliert wurde. Sein Zitat vom 29. September 1941, wonach „ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teiles dieser großstädtischen Bevölkerung in diesem Existenzkrieg unsererseits nicht“ bestehe, offenbart die ganze Brutalität und Erbarmungslosigkeit. 

Ihr Abwehrkampf gilt jedoch auch als ein bis in die Gegenwart reichender sowjetischer Heldenmythos – die Erzählung von einer in Not zusammengeschweißten Solidargemeinschaft, eines fanatischen Widerstands unter der weisen und fürsorglichen Führung Stalins, der nichts unversucht ließ, um über die „Straße des Lebens“ seine Leningrader zu versorgen. Der Freiburger Historiker Jörg Ganzenmüller widerlegte in seiner Studie über „Das belagerte Leningrad“ (Paderborn 2005) viele dieser Mythen. So herrschte unter dem Kommando Alexei Schdanows, seit den Stalinschen Säuberungen der dreißiger Jahre einer der brutalsten Vollstrecker des Sowjetterrors, auch in der Festung an der Newa der ebenso paranoide wie erbarmungslose Unterdrückungsapparat des NKWD weiter, der überall „Defätisten“ oder „Saboteure“ witterte und ausschaltete. Diese Gewalt stellt Ganzenmüller sogar als „konstitutiven Bestandteil in der bolschewistischen Verteidigungsstrategie und -praxis“ dar. 

Auch die zeitweise Unterbrechung der deutschen Blockade, die in den drei Kriegswintern über den zugefrorenen Ladogasee eine Versorgung zuließ – 1942 sogar mit einer unter größten Opfern errichteten Eisenbahnstrecke und einer Kraftstoffpipeline – diente zu achtzig Prozent militärischen Gütern in oder aus der belagerten Stadt. Selbst der auf den Straßen allgegenwärtige Hungertod inspirierte die verantwortlichen Stadt-sowjets nicht, diese fatale Quote zugunsten dringend benötigter Lebensmittel zu ändern. Der Aufwand an menschlichen und materiallen Ressourcen, um die – letztlich nicht besonders effektive – Rüstungsindustrie in Leningrad über die gesamte Blockadezeit aufrechtzuerhalten, paßte allenfalls zum Mythos des „heroischen Abwehrkampfs“, real verschlimmerte die Produktion Hunderttausender Gewehre oder Hunderter von überschweren Woroschilow-Panzern KW-1 in den Kirow-Werken die prekäre Lage der ausgezehrten Arbeiter. Dabei bescherten die zentralistisch organisierten Lebensmittelzuteilungen allen nicht-kriegswichtig Arbeitenden mit teilweise nur 250 Gramm Brot pro Tag einen langsamen Tod durch Unterernährung.

Stalin hatte während des Krieges nie einen besonderen Ehrgeiz erkennen lassen, der Befreiung Leningrad eine militärische Priorität einzuräumen. Es wird in Rußland, wo nach 1945 von der Breschnew-Zeit bis heute unter Putin weiterhin der Mythos der sowjetischen Heldenstadt am Leben erhalten wird, wohl noch eine Weile dauern, bis man in der grausamen Unerbittlichkeit des sowjetischen Diktators wenigstens eine Teilschuld an den weit über eine Million Menschen erkennen wird, die in und um Leningrad ihr Leben lassen mußten.