© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/19 / 25. Januar 2019

Die tägliche Herausforderung
Verhaltenspsychologie: Ob „Bird Box“ oder „10 Years Challenge“, Selbstdarsteller kommen im Internet immer auf ihre Kosten
Boris T. Kaiser

Die Menschen lieben Herausforderungen. Vor allem dann, wenn man sich dabei nicht allzu sehr anstrengen muß. Das Internet wird dem durch das ständige Ausrufen neuer sogenannter „Challenges“ gerecht. Die wohl bekannteste digitale Herausforderung dieser Art in den letzten Jahren war die „Ice Bucket Challenge“, bei der sich die Leute einen Eimer mit eisgekühltem Wasser über den Kopf gossen, um nicht allzuviel Geld für die ALS-Forschung spenden zu müssen.

Youtube reagiert auf gefährliche Trends

 Während die „ALS Ice Bucket Challenge“ zumindest im Ansatz noch einen tieferen Sinn hatte, nämlich eben auf die Motoneuron-Krankheit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) aufmerksam zu machen und Spenden für die Erforschung von Therapien und einer bisher nicht vorhandenen Heilmethode zu sammeln, sind andere vermeintliche Herausforderungen in den sozialen Netzwerken vollends sinnbefreit. 

Beim Internet-Phänomen „Planking“ legen sich die Teilnehmer, mit Gesicht nach unten und seitlich angelegten Armen, so steif wie möglich hin, um sich dabei fotografieren zu lassen. Meist geschieht das Ganze an öffentlichen Plätzen und nicht selten riskieren die „Planker“ dabei Leib und Leben. Stürze aus großen Höhen oder von fahrenden Autos führten bereits zu schweren Verletzungen und sogar Todesfällen.

Überhaupt scheint die krankhafte Sucht nach Aufmerksamkeit bei vielen „Digital Natives“ so groß zu sein, daß sie dafür jeglichen Verstand und alle natürlichen Überlebensinstinkte über Bord werfen. Rund 300 sogenannte „Selfie-Tote“, also Menschen, die bei dem Versuch starben, sich in einer möglichst spektakulären Pose selbst zu fotografieren, soll es weltweit bereits gegeben haben. Über 70 Prozent der so ums Leben gekommen Narzißten waren wissenschaftlichen Erhebungen zufolge Männer. Manchmal scheint Männlichkeit offenbar doch wirklich „toxisch“ zu sein.

Die Grenzen zwischen Mutproben und Dummheitsbeweis sind im Internet-Zeitalter fließender denn je. In dieser Grauzone der menschlichen Verhaltenspsychologie bewegen sich auch die „Roofer“, zumeist junge Menschen, die ohne jegliche Sicherung auf hohe Gebäude und andere Bauwerke klettern, um sich dort für die Kamera in Szene zu setzen. Besonders beliebt ist das Roofing in Rußland, wo das Klettern auf Hausdächer im allgemeinen nicht als Hausfriedensbruch gilt.

Neuester Trend unter den Lebensmüden, die ihre 15 Minuten Ruhm einlösen wollen, ist eine Aktion, die sich „Bird Box“ nennt. Inspiriert wurde diese Challenge durch den gleichnamigen Netflix-Horrorthriller mit Sandra Bullock. Fans des Films und andere Internet-Opfer filmten sich, wie sie mit verbundenen Augen den Alltag „meisterten“. Einige setzten sich so sogar ans Steuer ihres Autos. Anschließend wurden die Videos bei Youtube hochgeladen. Das Unternehmen hat mittlerweile reagiert. Die „Bird Box“-Clips dürfen bei der Streaming-Plattform inzwischen nicht mehr hochgeladen werden.

Wer glaubt, mit Blind-Autofahren wäre die Spitze der „Jack Ass“-Skala erreicht, der kennt die „Tide Pod Challenge“ noch nicht. Bei dieser geistreichen Selbstdarstellung beißen Teenager auf Waschmittel-Kapseln, bis das Gel herausquillt. Dutzende Jugendliche landeten bereits mit Vergiftungen im Krankenhaus. Würde es den Darwin Award für Menschen, zu deren Tod ein gerütteltes Maß an eigener Dummheit beigetragen hat, nicht schon seit den frühen 1990ern geben, er müßte für die „Generation Z-(Promi)“ glatt erfunden werden.

Nicht alle Internet-Challenges sind direkt lebensgefährlich. Bei der „10 Year Challenge“ zeigen Topstars und Normalos anhand von Fotos, wie sie sich in den vergangenen zehn Jahren verändert haben. Was vielen nicht bewußt ist: Die Vorher-Nachher-Bilder können genutzt werden, um automatische Gesichtserkennungssoftware zu trainieren. Und so blasen Millennials, die bei Videoüberwachung oder Behördenfotos oft sofort Autoritarismus wittern, freiwillig ihre 2009/2019-Aufnahmen ins weltweite Netz.

Dem Selbstdarstellungstrieb der Internet-Generation wird das keinen Abbruch tun. Die Twerker und Gangnam Styler werden auch in Zukunft noch viele Wege finden, sich der Welt zu präsentieren, so wie sie sind; oder zumindest so, wie sie sich selbst gern sehen.