© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/19 / 01. Februar 2019

Kostbare Erinnerungen heraufbeschwören
Erinnerungen an eine Jugend in Breslau: In Görlitz erinnert eine Sonderschau an den Künstler Alexander Camaro
Paul Leonhard

Die aus dem 14. Jahrhundert stammende Alte Annenkirche in Breslau hat es ihm angetan. Immer wieder versucht Alexander Camaro, das ihm einst vertraute Gotteshaus auf die Leinwand zu übertragen. Als 79jähriger hat der seit Kriegsende in Berlin lebende Künstler die Stadt seiner Kindheit und Jugend noch einmal besucht. Er hat mehrere Fotos von der Kirche St. Maria auf dem Sande und der Alten Annenkirche in der Neuen Sandstraße angefertigt, aber zurück an der Spree scheint die Erinnerung zu verblassen. Noch im selben Jahr, 1980, malt er die Kirche schemenhaft mit Öl und Kohle auf Karton, fast zehn Jahre arbeitet er an zwei ähnlichen Motiven.

„Und wie nahe steht Vergangenheit und plötzlich die Erkenntnis, daß Vergangenheit lebendiger erscheint als Gegenwart und die Verwandlung das Zwischenreich zu sein scheint“, schreibt er in sein Notizbuch. Es sei schwierig, die früheren Empfindungen mit den Mitteln der Kunst wieder erlebbar zu machen, um „in die Welt, die uns angeht, vorzustoßen und zu verweilen“.

Es ist eine Zeit, in der der am 27. September 1901 in einer Arbeiterfamilie im ländlich-verträumten Breslau-Morgen-thau geborene Alfons Bernhard Kaczmarofski, der sich später Alexander Kamaroff und nach Kriegsende Alexander Camaro nennt, beginnt, seine Kindheit und Jugend zu thematisieren, vieles aus der staunenden Perspektive eines Kindes. In diesen Gedichten und Kurzgeschichten, in denen er eine träumerische bis melancholische Atmosphäre heraufbeschwört, versucht er sich seiner Erinnerungen an Breslau zu vergewissern.

Maßgeblicher Vertreter der Berliner Nachkriegsmoderne  

Auf Initiative der Camaro-Stiftung zeigt das Schlesische Museum zu Görlitz die Sonderausstellung „Alexander Camaro und Breslau – Eine Hommage“. Es ist das erste Mal, daß die poetischen Bilderwelten außerhalb des Camaro-Hauses zu sehen sind. Sie erzählen von einem einzigartigen Multitalent, das sich als reisender Artist, Nachtklubmusiker, Tänzer, Kabarettist durchs Leben schlägt, ehe er in Berlin die erhoffte Anerkennung als Maler findet und 1952 eine Professur für Zeichnen, Malen und Komposition an der Hochschule für Bildende Künste Berlin erhält, die er bis 1969 ausübt.

Camaro hat sich als Künstler nie festgelegt; er entwickelt sich zu einem Tausendsassa. Schon um 1919 entstandene Gemälde wie „Tochter des Schaubudenbesitzers“ oder „Im Bordell“ zeugen vom großen Talent eines jungen Mannes, der gerade noch als Hochseilartist und Clown mit fahrenden Schaustellern auf Tour gewesen ist und nun in Breslau Musik studiert und privaten Zeichenunterricht bei dem Künstler Hans Jistel nimmt. Das Malen fasziniert ihn, und er wird Schüler des berühmten Expressionisten Otto Mueller an der Staatlichen Akademie für Kunst und Kunstgewerbe, den er lebenslang verehren wird. Sechs Jahre, die Camaro als „eine überaus fruchtbare kulturelle Epoche“, beschreibt, „eine glückliche Kombination eines Kreises von schöpferischen Menschen, die selten sich ergibt“.

Der künstlerische Durchbruch als Maler bleibt ihm in Breslau jedoch versagt. Nach zwei brotlosen Jahren zieht Camaro einen Schlußstrich und läßt sich in Dresden an der Tanzschule von Mary Wigman im Ausdruckstanz ausbilden. 1930 feiert er als ihr Partner in dem Tanzdrama „Das Totenmal“ von Albert Tahlhoff in München sein Debüt. Nachdem er von den Nationalsozialisten 1933 als Maler mit einem Arbeits- und Ausstellungsverbot bedacht wird, konzentriert sich Camaro auf eine Karriere als Tänzer, ist 1938 Ballettmeister im ostpreußischen Allenstein. Nach Kriegsausbruch bespaßt er die Fronttruppe in Rußland und auf der Krim; als er 1944 selbst Soldat werden soll, taucht er in Pommern ab und erst nach Kriegsende in Kleinmachnow bei Berlin wieder auf.

Unter dem Künsternamen Alexander Camaro wird er erstmals in seinem Leben seßhaft. Eine produktive malerische Phase beginnt. Bereits mit dem Bilderzyklus „Das Hölzerne Theater“ von 1945/46 kann er sich in der Berliner Kunstszene etablieren. Regelmäßig stellt er in Galerien aus. 1949 knüpft er an seine Jugenderfahrungen als Clown an und gründet mit dem Literaten Johannes Hübner und der Malerin Katja Meirowsky das legendäre, surrealistisch geprägte Künstlerkabarett „Die Badewanne“. Camaro avanciert zu einem maßgeblichen Vertreter der Berliner Nachkriegsmoderne, erhält 1951 den Berliner Kunstpreis für Malerei. In den sechziger Jahren baut er für die von dem Bauhausarchitekten Hans Scharoun entworfene Berliner Philharmonie sowie die Staatsbibliothek, das Musikinstrumenten-Museum und den Kammermusiksaal.

Die schlesische Heimat seiner Kindheit und Jugend beschäftigt Camaro bis zu seinem Tod am 20. Oktober 1992. Er versucht, ihm kostbare Erinnerungen heraufzubeschwören und diese künstlerisch umzusetzen. „Die Poesie der flachen, stets von Überschwemmungen bedrohten Flußlandschaft fing Camaro sowohl in Bildern seines Früh- als auch seines Spätwerkes ein: mit Motiven von Ruderbooten und Bootshäusern oder durch menschenleere, nebelverhangene Landschaften mit vorbeihuschenden Tieren, die er als Kind oft in den verwilderten Gärten beobachtet hatte“, schreibt Kuratorin Johanna Brade im zur Ausstellung in deutscher und polnischer Sprache erschienenen Lesebuch.

Die Sonderausstellung zeigt neben drei großformatigen und etwa 20 weiteren Werken Camaros auch von ihm inszenierte Atelier-Fotografien sowie Kurzfilme, Tagebucheinträge, zahlreiche historische Postkarten aus Breslau sowie Stücke aus Camaros eigener Kunstsammlung. 

Die Ausstellung ist bis zum 10. März im Schlesischen Museum zu Görlitz, Schönhof, Brüderstraße 8, täglich außer montags von 10 bis 16 Uhr zu sehen, anschließend im Camaro-Haus Berlin (5. April bis 29. Juni) und im Stadtschloß Breslau (2. August bis 6. Oktober).

 www.schlesisches-museum.de