© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/19 / 01. Februar 2019

Der Pragmatiker war ein Hasardeur
Klaus Malettkes große Biographie über den französischen Staatsmann Kardinal Richelieu
Eberhard Straub

Jean Armand du Plessis, Herzog von Richelieu, Kardinal der Römischen Kirche und Prinzipalminister Ludwigs XIII. von Frankreich, war zu seinen Lebzeiten einer der umstrittensten Staatsmänner und stellt die Historiker, die ihm gerecht werden wollen, weiterhin vor unangenehme Fragen. War dieser Kirchenfürst wirklich ein Mann des Staates, allein der Staatsräson folgend und ihrer ganz eigenen Sittlichkeit, mehr Machiavellis aufmerksamer Schüler als des immer noch maßgeblichen Kirchenlehrers Thomas von Aquin? 

Klaus Malettke, ein ausgezeichneter Kenner der französischen Geschichte, spricht im Untertitel seiner Biographie von einem Leben „im Dienst des Königs und Frankreichs“. Er weicht den Begriffen Staatsdiener und Staatsmann – übrigens völlig zu Recht – aus, wobei allerdings vorausgesetzt wird, daß der König über den heftigen bis in den Bürgerkrieg ausartenden Parteistreitigkeiten steht und die Krone als unangefochtenes Symbol der Eintracht allgemein anerkannt wird. 

Richelieu wurde in einem durch verfassungspolitische und religiöse Forderungen dauernd beunruhigten Frankreich 1585 geboren, das zu beruhigen auch ihm nicht gelang. Der Adel wehrte sich vehement gegen die monarchische Vorherrschaft und gegen Tendenzen zur Verstaatlichung des Königreiches, auf die vielmehr die Bürger hofften, um sorglos ihren Geschäften nachgehen zu können, darin möglichst nicht weiter von der Aristokratie  behindert. Die Richelieus gehörten nicht zu den großen Familien, ein Grund für den Ehrgeiz, endlich in deren Kreis einzudringen und durch Ehe – wie Interessenbündnisse – einem solchen Vorrang Dauer zu verleihen. Gar nicht von vornherein für die geistliche Laufbahn bestimmt, sorgte sich der vorerst ritterlich-höfisch erzogene Kavalier, der zu gefallen wußte, später als Bischof und Kirchenfürst um den Aufstieg seiner Familie. Im Dienste für den König wurde das Haus Richelieu zu einem herzoglichen, zu einem der reichsten in Frankreich, zu einer Familie, mit der verwandt zu sein immer einige Vorteile versprach. 

Richelieu ohne Konzept im Dreißigjährigen Krieg

Dem Minister konnte gar nicht daran gelegen sein, die Macht der Aristokratie einzuschränken, an der er selber Anteil hatte. Es ging ihm nur darum, die Freiheit der großen Herren mit der Treue zum König in ungestörtem Zusammenhang zu halten. Insofern dachte und handelte er im Rahmen der überlieferten und verpflichtenden vorstaatlichen Religion des Königtums. Christus der Weltenkaiser bedurfte konkreter  Bilder seines Weltregiments. Dazu hatte er die Monarchen bestimmt, die seine Majestät auf Erden repräsentieren. Königliche Herrschaft war eine mystische Monarchie auf rationaler Grundlage im Wettbewerb mit der Kirche, die eine rationale Monarchie auf mystischer Grundlage ist. So beschrieb Ernst Kantorowicz die Spannung und die Symmetrie zwischen den beiden Gewalten. Richelieu diente Gott, wenn er dem König diente. Königsdienst war Gottesdienst.  

Doch neben dem König gab es dessen Mutter, Maria Medici, die als Königinwitwe eine Zeitlang für den unmündigen Sohn regierte und daran so viel Freude gefunden hatte, daß sie auf Mitherrschaft nicht mehr verzichten wollte. König und Königin verfügten nicht über die gleichen Diener, weil die Adelsparteien, bei aller Ergebenheit zum schlecht beratenen König, beide für ihre Interessen, je nach den wechselnden Zuständen, gebrauchen wollten. 

Auch der junge Richelieu schwankte, wo er die beste Zukunft nicht für Frankreich, sondern für seine anspruchsvollen Wünsche erwarten durfte. Er war ein Gefolgsmann der Königin, der er fast alles verdankte, vor allem 1622 den Kardinalshut. Der machte ihn königlichen Prinzen gleich und gab ihm vor allen anderen Mitgliedern im Staatsrat, in den ihn der König 1624 berief einen Vorrang, den alte Aristokraten unwillig hinnehmen mußten. Mit ihrem Widerstand mußte er immer rechnen, bald auch mit dem der Königin. 

Es gelang ihm, den König, zuweilen seufzend, aber in aufrichtiger Loyalität dauernd für sich zu gewinnen trotz einiger dramatischer Krisen. Die waren  Wendepunkte. Aber Klaus Malettke, ein kenntnisreicher Berichterstatter, fürchtet historische Dramen als melodramatisch und möchte den Kardinal und Prinzipalminister trotz mancher Nervenzusammenbrüche fast wie eine Angela Merkel verstehen, immer pragmatisch, weil alles vom möglichen Ende her berechnend. 

Doch Richelieu, in stürmisch aufgeregten Zeiten zu einer leitenden Figur aufgestiegen, konnte kaum an die Folgen seines Tuns denken. Er ließ sich von Wellen tragen und wurde als Schiffbrüchiger auch oft genug zum Opfer ihrer Unberechenbarkeit. Ein Konzept für das im inneren zerrüttete Frankreich mitten in einem Europa, das von einem regionalen Krieg in den anderen taumelte, bis aus den vielen Kriegen ab 1635 ein allgemeiner Krieg wurde, ein erster Weltkrieg, der Asien und Amerika mit einbezog, besaß er nicht. 

Klaus Malettke beruhigt den Leser, darin liege eben die Biegsamkeit und die Kraft des Pragmatikers, sich geschickt allen plötzlichen Umschlägen anzupassen und dabei Gewinne einzuheimsen. Doch der Pragmatiker war ein großer Hasardeur. Ohne Rücksicht auf die Möglichkeiten Frankreichs bei ständigen Unruhen ruinierte er, wie seine Feinde sagten, Frankreich, um Spanien zu vernichten und den Kaiser im Reich um seine verfassungsmäßigen Vorrechte zu bringen. 

Einen Frieden mochte er erst zu Bedingungen schließen, die dem Führungsanspruch Frankreichs genügten, die Waage der göttlichen Gerechtigkeit fest in der Hand gegen jeden Widerspruch zu behalten. Ein Pragmatiker war der von einer französischen, welterlösenden Sendung ergriffene hohe Priester des Königtums überhaupt nicht, der gar Macht, wie Klaus Malettke unentwegt beteuert, verabscheute und allein auf Recht und die Gerechtigkeit vertraute, deren Sachwalter der französische König aufgrund göttlicher Bestimmung ist. 

Für Richelieu gab es daher angeblich keine politischen Fragen, sondern nur Rechtsfragen. Politik ist in diesem Sinne Schutz des Rechtes, ein Mittel, um mit Hilfe des französischen Königs die göttliche Weltherrschaft der Gerechtigkeit vor Erschütterungen zu bewahren. Wer gegen Frankreich kämpft, streitet gegen Jesus Christus, wie schon die Jungfrau von Orleans religiös-national begeistert verkündet hatte. Richelieus Feinde in Frankreich sahen das ganz anders, auch erheblich anders als Klaus Malettke im nachhinein. Für sie war er ein Spieler, der aus Nervosität oft genug den Überblick  über seine gewagten Einsätze verlor, der sich in Fallen verfing, die er anderen stellte und froh sein mußte, wenn ihn unerwartete Wendungen aus den Verstrickungen befreite, in die er sich selbst verwickelt hatte. Seine Staatskunst beschränkte sich auf gar nicht sonderlich überlegte Improvisationen. Er vergriff sich oft in seinen Mitteln, da seine aufgeregte Phantasie meist größer war als seine Klugheit. Äußerst scharfsinnig unterschied er zwischen dem Schlimmen und Schlimmsten, dem Guten und dem Besten, wie der Kardinal Retz, ein letzter aristokratischer Frondeur unter Ludwig XIV., Richelieu vorwarf.

Robespierre und Napoleon sind Richelieus Erben

Bei seinem Tod 1642 war Frankreich ruiniert von schrecklichen Kriegen, die bis 1659 weiter vor sich hin wucherten, Richelieu hat nichts geschaffen. Darin haben seine Feinde recht behalten, auch gegenüber dessen neuesten Biographen. Richelieu hinterließ weniger ein  Werk als eine mittelalterliche Idee, die er allerdings ungemein dynamisierte: die Erlösung Europas und der Menschheit durch die Allerchristlichsten Könige Frankreichs. Die Revolution brauchte diese Vorstellungen nur demokratisch umzudeuten und zu säkularisieren, ohne deren Pathos überhaupt zu mindern. Robespierre und Napoleon sind Richelieus Erben. Der  Nachruhm Richelieus verdankt sich gerade in Frankreich Jakobinern und Nationalisten, die gar nicht an das Recht dachten, weil von der Geschichte und dem Weltgeist dazu berechtigt, Europa und die Menschheit – auch mit Gewalt und Umerziehung – von Vorurteilen und Tyrannei zu befreien.  

Klaus Malettke: Richelieu. Ein Leben im Dienst des Königs und Frankreichs. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2018, 1.076 Seiten, Abbildungen, 128 Euro