© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/19 / 01. Februar 2019

„Die biologische Spur im Diskurs ...“
Cultural Studies: Stuart Halls posthume Publikation bietet ein Protokoll des Scheiterns
Siegfried Gerlich

Dem 2014 verstorbenen britisch-jamaikanischen Soziologen Stuart Hall, der sein politisch engagiertes Leben mit der Dekonstruktion von „Rasse“, „Ethnie“ und „Nation“ zubrachte, dürfte das Eingeständnis nicht leichtgefallen sein, daß sich dieses „verhängnisvolle Dreieck“, nach welchem auch das vorliegende Büchlein benannt ist, doch nicht bloß aus reinen Konstrukten zusammensetzt. Denn nach dem Ende des Kolonialismus brach sich zumal in den westlichen Diasporen farbiger Minderheiten ein auf jene drei identitären Substrate bezogenes Selbstverständnis Bahn, derweil sich die weißen Mehrheitsgesellschaften schuldbewußt auf antirassistische Farbenblindheit einzustellen begannen. Insofern stellt bereits der Titel dieser 1994 gehaltenen Vorlesungen eine resignative Abwandlung jenes von „Kultur“, „Macht“ und „Identität“ umrissenen „magischen Dreiecks“ dar, das die von Hall mitbegründeten „Cultural Studies“ programmatisch vor sich her trugen. 

Diese den „Postcolonial Studies“ wie den „Black Studies“ benachbarte Disziplin suchte aus den Kulturwissenschaften jeden Bezug zu Natur und Naturwissenschaft auszutreiben, nachdem sich die Ideologien des westlichen Kolonialismus einer „Naturalisierung“ von Geschichte sowie einer „Rassifizierung“ von Kulturen schuldig gemacht hatten. 

Hall zufolge wurde die wünschenswerte Auflösung aller scheinbar natürlichen Dinge durch den modernen Kapitalismus selbst eingeleitet, denn schon Marx beschrieb, wie infolge der industriellen Revolution „alles Ständische und Stehende verdampft“. Vollends nach dem „Aufmarsch des globalen Kapitals“ sei es zu „neuen lokalen Identifikationen, neuen Bindungen“ gekommen, und so laute die zeitgemäße identitäre Frage nicht mehr „Wer sind wir?“, sondern „Zu wem können wir werden?“ Gegenüber anarcholibertären Identitätszerstörungen hält Hall somit durchaus an der menschlichen Zuträglichkeit von Identitätsbildung fest, nur daß an die Stelle essentialistisch verfestigter Kernidentitäten verflüssigte und artifiziell neugebildete „Diaspora-Identitäten“ zu treten hätten, die weniger nach „roots“ in der Vergangenheit graben als vielmehr nach „routes“ in die Zukunft Ausschau halten würden.

Unabsichtlich hat Hall einer Identitätspolitik zugearbeitet

Vor diesem Hintergrund charakterisiert Hall, der sich Benedict Andersons Fiktionalisierung der Nation zu einer bloß „imaginierten Gemeinschaft“ anschließt, auch die „nationale Identität“ als eine „verletzliche und auffallend kränkliche Pflanze“, die er allenfalls noch bei den ehemaligen nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt zu schonen bereit ist. In der späteren postkolonialen Staatenwelt wie in den westlichen Einwanderungsländern beschworen jene Befreiten indessen eine „Wiederkehr der Ethnizität“ herauf, die zunächst wohl weniger „ethnische Reinheit“ als „kulturelle Zugehörigkeit“ meinte, dann aber zunehmend in rassische Selbstabschließung einmündete. 

Als naheliegendes Beispiel führt der lange Jahre an der Universität Birmingham lehrende Hall Großbritannien an, wo die „gestörten Beziehungen zwischen Schwarzen und Chicanos sowie anderen Lateinamerikanern, Koreanern, Vietnamesen, Chinesen“ die Utopie eines „Schmelztiegels“ längst als „Illusion“ erwiesen hätten. Am meisten bekümmert Hall jedoch, daß gerade multikulturalistische und antirassistische Soziologen wie er selber mit der Propagierung einer „Kultur der Differenz“ auch einer unverhohlen rassisch profilierten Identitätspolitik zugearbeitet haben. Und so gesteht Hall mit seiner bohrenden Frage, „warum Rasse in der Menschheitsgeschichte so hartnäckig fortlebt und unmöglich abzuschütteln ist“, immer auch sein eigenes Scheitern ein.

In der Sache erkennt Hall das Bestehen von biologischen Gruppenunterschieden zwar an, doch hält er diese in sozialen und kulturellen Hinsichten so lange für belanglos, wie ihnen nicht eine rassistische Bedeutung verliehen werde. Der Westen habe allerdings ein vom „Willen zur Macht“ angetriebenes „Wahrheitsregime“ errichtet, in dessen Dienst in der Moderne die Humanwissenschaften getreten seien, um „Rasse“ als „diskursives Konstrukt“ zu etablieren. An anderer Stelle präsentiert Hall „Rasse“ auch als einen „gleitenden Signifikanten“, der sich an morphologischen Merkmalen festmache, um dann sowohl in die dunklen Tiefen biologischer Genotypen abzutauchen als auch in die lichten Höhen kultureller Phänotypen aufzusteigen. Und diese rein assoziativen „Äquivalenzketten“ als naturgegebene „Korrelationen“ auszugeben, stelle die eigentliche Leistung des „wissenschaftlichen Rassismus“ dar. 

Einer ernsthafteren Auseinandersetzung etwa mit Verhaltensgenetik, Intelligenzforschung und physischer Anthropologie hat Hall sich jedenfalls stets durch eine dekonstruktivistische Abwehrrhetorik entzogen, wie sie kulturalistische Akademiker, die von einem merkwürdigen Stolz auf ihre naturwissenschaftliche Bildungsferne erfüllt sind, noch heute bei ihren Rückzugsgefechten ins Feld zu führen pflegen. Um so entlarvender ist die Naivität, mit der sich Hall auf die „Diskreditierung wissenschaftlicher Rassedefinitionen nach dem Zweiten Weltkrieg“ beruft und diese als unanfechtbares Resultat naturwissenschaftlicher Forschungen hinstellt; denn als Diskurs- und Machtanalytiker hätte er jene berühmte UN-Deklaration, welche die „Gleichheit der Rassen“ als sanktionsbewehrte Wahrheit festschrieb und zudem die verräterische Sprachregelung empfahl, „Rasse“ einfach durch „ethnische Gruppe“ zu ersetzen, als eine rein diskurspolitische Entscheidung im Rahmen eines neu ausgerichteten „Macht-Wissens-Komplexes“ entlarven müssen. 

Insgeheim aber dürfte Hall geahnt haben, daß die rasanten Erkenntnisfortschritte der Genforschung hinsichtlich bio-anthropologischer Diversität sich auf Dauer nicht mit sophistischen und selbstreferentiellen Sprachspielen parieren lassen werden, denn bereits in diesen Vorlesungen hatte er den Glauben daran verloren, daß „die biologische Spur aus dem Diskurs gänzlich verschwinden wird“. 

Stuart Hall: Das verhängnisvolle Dreieck. Rasse, Ethnie, Nation. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, gebunden, 212 Seiten, 28 Euro