© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/19 / 08. Februar 2019

Der große Graben
Unruhe, Unbehagen und Spaltung nehmen zu: Die arbeitende Mittelschicht kündigt die Gefolgschaft auf
Michael Paulwitz

Trügerische Ruhe scheint immer noch über Merkelland zu liegen, dem laut Eigenwerbung besten Deutschland, das wir je hatten. Doch unter der Oberfläche gärt und brodelt es. Erst Proteste gegen unkontrollierte Einwanderung und Messergewalt im Osten, jetzt Demos gegen Diesel-Fahrverbote im Westen – immer öfter rutscht Bürgern die vorher nur stumm geballte Faust aus der Tasche.

Durch Deutschland zieht sich ein tiefer Riß. Mit überkommenen Kategorien wie rechts-links, Ost-West, oben-unten, progressiv-rückwärtsgewandt ist diese Spaltung nicht mehr zu beschreiben. Es sind nämlich nicht Extremisten oder Verhetzte, die da aufbegehren. Viel gefährlicher für die an den Schalthebeln: Die Mittelschicht, die das Gemeinwesen trägt und am Laufen hält, kündigt den politischen und medialen Eliten die Gefolgschaft auf, weil diese sie im Stich gelassen haben.

Die Mittelschicht: Das sind die Leute, die jeden Morgen aufstehen, arbeiten gehen und Steuern zahlen, die Familien gründen, Kinder erziehen und sich darum kümmern, daß diese in geordneten Verhältnissen aufwachsen und etwas lernen, die sich ehrenamtlich für andere engagieren, die Verantwortung in Familie und Gesellschaft übernehmen in der Hoffnung, daß es ihnen und ihren Kindern als Frucht ihrer Leistung künftig besser geht.

Darüber hinaus entrichten sie Steuern und Abgaben, und das nicht zu knapp. Im Gegenzug erwarten sie, daß der Staat das Seine tut und seine Versprechen hält: daß er sein Gewaltmonopol behauptet; daß Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit für alle gelten; daß Infrastruktur und öffentliche Einrichtungen, Bildungswesen und Verwaltung ordentlich funktionieren; daß mit dem Geld der Bürger verantwortlich und sparsam umgegangen wird und jeder Wohlstand, Vermögen und Absicherung im Alter aufbauen kann.

Dieses Versprechen erfüllt der deutsche Staat immer schlechter und vielfach nur noch auf dem Papier. Die Mittelschicht hat das lange nicht gemerkt. Wer ganz davon in Anspruch genommen ist, trotz steigender Lasten über die Runden zu kommen und den eigenen Lebensstandard zu verteidigen, schaut lieber weg und glaubt gern, daß doch irgendwie alles gutgehen würde.

Inzwischen aber ist das Staatsversagen unübersehbar. Die Staatsfinanzen ufern aus, das Steueraufkommen hat sich fast verdoppelt in den dreizehn Merkeljahren, während das Durchschnittseinkommen weit hinterherhinkt.

Den Umverteilungspolitikern reicht es trotzdem nicht. Eben heißt es noch, der Fiskus habe zweistellige Milliarden-Überschüsse eingenommen, dann tut sich plötzlich ein noch größeres Milliardenloch auf. Für ideologische Wunschprojekte dagegen ist immer Geld da, egal ob sie Energiewende, E-Mobilität, Kohleausstieg oder unkontrollierte Millionen-Einwanderung heißen.

Die hat nicht nur die Staatsausgaben, sondern auch die innere Sicherheit zerrüttet. Die Armee: heruntergewirtschaftet. Das Bildungssystem: ideologisch überfrachtet, kaputtreformiert und zum migrationspolitischen Reparaturbetrieb degradiert. Bahn und Straßennetz: ein Trauerspiel. Kommunikation und digitale Infrastruktur: nur Mittelmaß, allem Dauerpalaver über die Digitalisierung zum Trotz. Sparguthaben und Rentenansprüche: von Euro und Nullzinspolitik entwertet.

Natürlich gibt es auch Profiteure: eine globalistisch ausgerichtete Elite in Politik, Medien, Wirtschaft und Intellektuellenbetrieb, die sich Staat und Gesellschaft nach ihrem Lebensmodell eingerichtet hat. Sie predigen „Offenheit“, „Toleranz“ und „Diversität“. Sie können bei der Uno arbeiten oder in Brüssel, in einem deutschen Ministerium oder in einem Redaktionsbüro oder in einer der zahllosen Nichtregierungsorganisationen. Sie sind austauschbar und bleiben doch unter sich. Wer ihnen die Stange hält, bekommt etwas vom Segen ab.

Sie sind die „Anywheres“, wie der englische Publizist David Goodhart sie nennt, weil sie sich von den unerfreulichen Konsequenzen ihrer Weltanschauung abkoppeln können. Die „Somewheres“, die an ihr konkretes soziales und wirtschaftliches Umfeld gebunden sind, können das nicht. Sie können nicht einfach in ein privilegiertes Viertel ziehen, auswandern oder ihren Familienbetrieb ins Ausland verlagern, wenn die Nachbarschaft zur Fremde und die Steuerlast unerträglich wird, sie können ihr Kind nicht auf teure Privatschulen schicken, wenn die Staatsschule zum Ghetto wird, sie finden nicht mal eben eine neue Stelle oder eine andere Wohnung, wenn sie von importierter Billigkonkurrenz verdrängt werden, und sie können nicht einfach ihr Auto abschaffen oder ein neues kaufen, wenn das alte den ideologischen Anforderungen nicht mehr genügt.

Zwischen „Somewheres“ und „Anywheres“ verläuft der große Graben quer durch die westlichen Gesellschaften: zwischen Trump-Wählern und US-Establishment, Macron und Gelbwesten, AfD-Wählern und Merkelianern. Die ausgepreßte Mittelschicht merkt, daß sie keine Lobby hat: nicht die „Bürgerlichen“, die Rechtsstaat, Ordnung, Sicherheit und Bildungswesen bedenkenlos in den Wind schießen; und auch nicht die „Linken“, die den Nationalstaat geringschätzen, der dem kleinen Mann am besten soziale Sicherheit garantieren kann.

Sie ziehen den Karren, aber die tonangebenden Eliten verachten ihre Werte und ihre Lebensart. Begehren sie auf gegen ihre schleichende Enteignung, suchen sie sich eine andere politische Heimat, droht ihnen die Nazi-Keule. Der Graben wird davon nur noch tiefer. Er läßt sich auch nicht zuschütten, indem die Politik Almosen verteilt, die die Empfänger selbst bezahlen müssen und bald nicht mehr können. Die Konjunkturdaten zeigen nach unten, harte Verteilungskämpfe stehen bevor. Je länger der Tanz auf dem Vulkan weitergeht, desto grausamer wird der Absturz.