© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/19 / 08. Februar 2019

Um 180 Grad gewendet
AfD-Gutachten: Statt wie einst vorgesehen die Institutionen des freiheitlichen Staats zu hüten, warnt der Verfassungsschutz nun vor „Rassismus“
Jörg Kürschner

Wo kann man hier gegen Ausländer unterschreiben?“ fragten die Bürger im hessischen Landtagswahlkampf 1999 an den Informationsständen der CDU. Spitzenkandidat Roland Koch hatte mit einer Unterschriftenkampagne gegen die Pläne der neuen rot-grünen Bundesregierung für eine doppelte Staatsbürgerschaft mobilisiert, gewann überraschend die Wahl und wurde neuer Ministerpräsident. „Damit die Richtung stimmt“, lautete damals der Wahlslogan der Hessen-CDU, dessen Stoßrichtung politisch als fremdenfeindlich kritisiert worden, rechtlich aber folgenlos geblieben war. Zwanzig Jahre später hat sich die Richtung geändert. Der Verfassungsschutz erklärte die AfD zum „Prüffall“, die Junge Alternative (JA) sowie den „Flügel“ gar zum Verdachtsfall und begründete diese Entscheidung insbesondere mit einem „ethnisch-kulturellen Volksbegriff“, dessen Homogenitätsvorstellung mit Menschenwürde und Demokratie nicht vereinbar sei (JF 6/19). Die inhaltliche Übereinstimmung  zwischen der CDU-Kampagne von damals und der AfD-Programmatik von heute ist wohl kaum zu bestreiten. Meinungsfreiheit contra Schnüffelstaat?

Daß nahezu identische Sachverhalte inzwischen unterschiedlich bewertet werden, lasse sich nur mit einer Tendenzwende des Verfassungsschutzes erklären, betonte der Staatsrechtler Ulrich Vosgerau im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. Diese Wende ergibt sich aus veränderten politischen und rechtlichen Vorgaben. Politisch hat die Bekämpfung von Rassismus in den vergangenen Jahrzehnten einen höheren Stellenwert bekommen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem Politiker nicht vor Rassismus warnen. So eine Dauerdebatte erreicht auch die Mitarbeiter des Bundesamts und dürfte diese nicht unbeeinflußt lassen. Rechtlich erfolgen die Vorgaben durch das Parlament und die Gerichte. So hat das Bundesverfassungsgericht 2017 das Schutzgut der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ neu gewichtet. Im NPD-Urteil gehe es weniger um den Schutz der Institutionen als um die Menschenwürde, erläuterte Vosgerau. „Ihren Ausgangspunkt findet die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Würde des Menschen (Artikel 1 des Grundgesetzes). Die Garantie der Menschenwürde umfaßt insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit. Auf rassistische Diskriminierung zielende Konzepte sind damit nicht vereinbar“, heißt es in dem Urteil des höchsten deutschen Gerichts.

„Menschenrecht auf        gleiche Freiheit“

Bereits 1956 im Verfahren gegen die KPD hätten die Richter ihre zuvor beim Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP) 1952 die deutlich weiter gefaßten „grundlegenden Prinzipien“ der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekräftigt, erläuterte Vosgerau. Dazu gehörten die Achtung der Menschenrechte, aber auch die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, das Mehrheitsprinzip, die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition. Das Verfassungsrecht der Gegenwart subsumiert unter der Achtung der Menschenrechte nunmehr auch das Verbot einer rassistischen Diskriminierung, also Antirassismus. Einige Rechtswissenschaftler sprechen bereits von einem „Menschenrecht auf gleiche Freiheit“. In diesen Kontext gehört auch die Verschärfung der Strafen von Haßverbrechen, beschlossen 2015 vom Bundestag auf Empfehlung des NSU-Untersuchungsausschusses.

Die AfD will sich in ihrer Klage gegen die Entscheidung des Verfassungsschutzes auf formale Aspekte konzentrieren. Zum Ärger der Parteispitze hatte Behördenchef Thomas Haldenwang Journalisten Mitte Januar ins Bundespresseamt eingeladen, um ihnen auf einer Pressekonferenz die Entscheidung seines Amtes zu erläutern. Zuvor war das Gutachten an einzelne Redaktionen „durchgestochen“ worden. Die Geheimdiensten gegenüber stets äußerst kritischen Medien überschlugen sich anschließend in ihrer nahezu einhelligen Zustimmung zu dem Text, so daß Haldenwang zufrieden sein konnte ob der neuen „Sicherheitspartnerschaft“. Die AfD hingegen erhielt – zumindest offiziell – kein Exemplar. 

„Ein völlig groteskes, nie dagewesenes Verfahren“, meinte Vosgerau, werde doch zu Lasten der AfD in den politischen Wettbewerb eingegriffen. Er verweist darauf, daß es das Kriterium „Prüffall“ im Bundesrecht gar nicht gebe. „Der Verfassungsschutz prüft immer. Das ist ein rein behördeninterner Vorgang.“ Bezeichnend sei Haldenwangs Sprachregelung. Er erkläre die AfD zum Prüffall und unterschlage zugleich, daß somit die Anhaltspunkte für eine Beobachtung der Partei nicht ausreichten. Auf diese Weise solle die AfD in der Bevölkerung diskreditiert werden. 

In seiner Antwort auf eine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Leif-Erik Holm (AfD) schrieb der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Günter Krings, das Gutachten sei seitens des Bundesamts für Verfassungsschutz nicht an Journalisten weitergegeben worden. Die Prüfung, ob die Behörde „wegen der Weitergabe vertraulicher Informationen zur AfD an die Medien Strafanzeige stellen wird“, dauere noch an, so Krings.

Daß sich der Verfassungsschutz rechtlich auf dünnem Eis bewegt, legt auch eine Expertise des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages nahe. Dieser stellte im März 2016 fest: „Dabei kommt bereits der offenen Beobachtung, die sich ‘lediglich’ auf die Sammlung und Auswertung öffentlich zugänglicher Informationen bezieht, Eingriffscharakter zu.“ Und weiter heißt es, „die Beobachtungsmaßnahmen des Verfassungsschutzes können ferner das Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Artikel 21, Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz beeinträchtigen, wenn sie öffentlich werden“. 

Vor knapp drei Jahren hatte Haldenwangs Amtsvorgänger Hans-Georg Maaßen Forderungen aus der Politik nach einer Beobachtung der AfD mit der Begründung zurückgewiesen, die Partei stelle keine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung dar.