© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/19 / 08. Februar 2019

Aggressive Ansprüche
Bruchlinien: Im politisch-kulturellen Diskurs geht es vor allem um Identitätsfragen
Thorsten Hinz

Das Oberlandesgericht Graz hat die Rechtsgültigkeit der Freisprüche für 17 Angehörige der Identitären Bewegung (IB) in Österreich bestätigt. Den österreichischen Medien war das lediglich eine Randnotiz wert. In Deutschland fiel die Meldung gleich ganz unter den Tisch. Der Kontrast zum Pressegetöse beim Prozeßbeginn im Juli 2018 ist leicht erklärt: Der rechtsextremistische und kriminelle Popanz, zu dem die IB in der Öffentlichkeit gemacht wurde, darf unter keinen Umständen beschädigt werden. In Deutschland steht sie unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes. Die Verbindungen von AfD-Politikern zu einzelnen Aktivisten zählen zu den Verdachtsgründen gegen die Partei.

Das ist nicht sachlich, sondern politisch motiviert. Denn erstens geht von den rund 500 IB-Mitgliedern keinerlei Gewalt aus. Vielmehr werden sie selber zur Zielscheibe. Zweitens gehört die Identitätspolitik, auf die sich die Identitären beziehen, zu den stärksten Triebkräften der Gegenwart. 

Und zwar sowohl auf der zwischen- wie innerstaatlichen Ebene. Das erstarkte China weist Vorhaltungen über Menschenrechtsverletzungen als westliche Einmischung zurück und pocht auf die eigene kollektive Identität und Geschichte. Die Debatte über die Rückgabe von Kulturgütern an ehemalige Kolonien hängt eng mit der Identitätsfrage zusammen. Ein Mitarbeiter des tansanischen Nationalmuseums in Daressalam erklärte im Deutschlandfunk, es sei „längst Zeit, unsere gestohlene Identität zu reparieren“. Viele Afrikaner glaubten noch heute, daß die europäische der afrikanischen „Kultur überlegen sei und daß wir uns ihr unterordnen müssen“.

Es geht also auch um die Neujustierung kultureller Hierarchien und Verbindlichkeiten im globalen Maßstab. Islamische Staaten nutzen die Menschenrechtsnormen, die zur westlichen Identität gehören, um von den Europäern Respekt vor der Identität der eingewanderten Muslime zu verlangen, ganz gleich, ob diese mit den Gesetzen und Interessen der Zielländer kompatibel sind. Natürlich geht es ihnen darum, über die Anhänger ihrer Religion politischen Einfluß auf Europa zu nehmen.

Die Identitätspolitik ist ursprünglich ein Projekt zur Gleichstellung und Privilegierung tatsächlich oder vermeintlich benachteiligter Gruppen und Minderheiten. Die politische Linke verfiel auf sie, nachdem ihr klargeworden war, daß die durch Massenwohlstand und Sozialstaat zufrieden und bequem gewordene Arbeiterklasse als revolutionäres Objekt bzw. Subjekt ausgefallen war („Macht und Identität“, JF 2/19). Es ging und geht um Frauen, Behinderte, Schwule, Transsexuelle, Ausländer, um Minderheiten aller Art. „Antirassismus“, „Antidiskriminierung“, „Kampf gegen Islamophobie“ und für die öffentlich-mediale Sichtbarkeit der „People of Colour“ sind heute gängige Begriffe und Themen im politischen Diskurs.

Das Ensemble des Berliner Gorki-Theaters, einer repräsentativen Hauptstadt-Bühne in direkter Nachbarschaft zu Schinkels Neuer Wache, besteht überwiegend aus Migranten, die ihre vielfältigen Identitäten artikulieren. Max Czolleks unausgegorenes Manifest „Desintegriert euch!“, ein Plädoyer für „radikale Diversität“ und gegen deutsche „Dominanzkultur“, wurde vom Kulturbetrieb als zukunftsweisende Offenbarung gefeiert („Im Gedächtnistheater Regie führen“, JF 46/18). Also: Identitäre Strömungen, Bewegungen, Ausfallschritte allenthalben!

Sie führen inzwischen zu Konflikten, die in der identitätspolitischen Agenda nicht vorgesehen waren. Schwule, Queere, auch Juden, die mit frischem Selbstbewußtsein ihre Identität öffentlich zelebrieren, geraten in Konflikt mit Migranten aus muslimischen Kulturräumen, die ihrerseits mit Erfolg auf Kopftücher im öffentlichen Dienst, zeichenhafte Moscheebauten und allgemeine Rücksichtnahme auf ihre identitätsbestimmenden Eigenarten bestehen. Rap und Hip-Hop fördern bei jungen Migranten ein kollektives Selbstverständnis, das mit deutscher „Dominanzkultur“ höchstens noch im Modus strikter Ablehnung und Verachtung verbunden ist. Längst geht es ihnen nicht mehr um Toleranz, weil sich darin ein hierarchisches Verhältnis zwischen denen ausdrückt, die Toleranz ausüben und denen, die sie empfangen. Es geht ihnen um Gleichberechtigung und Teilhabe, und zwar nicht als Ergebnis produktiver Anstrengung und Leistung, sondern als Tribut der Aufnahmegesellschaft an die Identität der Einwanderer.

Wie der politische Philosoph Kenneth Minogue in dem 2010 erschienenen Buch „Die demokratische Sklavenmentalität“ beschrieben hat, hängen diese Tendenzen mit der Unfähigkeit bestimmter ethnischer Gruppen  zusammen, in der Gesellschaft eigenverantwortlich voranzukommen. Juden beispielsweise mit ihrem tiefverwurzelten Respekt vor Büchern oder bildungsbeflissene Ostasiaten haben in den USA sehr schnell die Erfolgsleiter erklommen. Anders sieht es bei Schwarzen oder Hispanics aus, die überproportional die Gefängnisse bevölkern. In den europäischen Ländern ist es ähnlich.

Es fehlt die „Anreizstruktur“ der alten Einwanderungsländer. Frühere Einwanderer waren in den Zielländern mit Ungerechtigkeiten und Vorurteilen aller Art konfrontiert und mußten besondere  Anpassungsleistungen erbringen, für die sie mit dem Erwerb von Wohlstand und sozialem Aufstieg belohnt wurden. Hingegen werden Europa und insbesondere Deutschland heute von „sozialer Sentimentalität“ („Willkommenskultur“) beherrscht, die auf der anderen Seite zu einer aggressiven Anspruchshaltung führt. Da der Mensch nicht vom Brot allein lebt, genügen auf die Dauer keine materiellen Zuwendungen mehr, man möchte auch gesellschaftliche Anerkennung. Hier entsteht ein Konflikt zur immer noch leistungsabhängigen Gesellschaft, den Thilo Sarrazin in den Satz faßte: „Jemanden, der nichts tut, muß ich auch nicht anerkennen.“ Dadurch entsteht in bestimmten Populationen eine „nörglerische Unzufriedenheit“, die zum „Ausspielen der Rassenkarte“ (Kenneth Minogue) und zum Insistieren auf der eigenen, angeblich benachteiligten kulturellen und religiösen Identität führt. 

Für die Identitätspolitiker handelt es sich um einen klaren Fall von Diskriminierung, die durch staatlich abgesicherte Privilegien, durch Beförderungen und prestigeträchtige Zertifikate ohne vorherigen Leistungsnachweis behoben werden muß. Das führt zu finanziellen und sozialen Belastungen, die von der in der Regel „weißen“ Mehrheitsgesellschaft getragen werden müssen, und zur permanenten Absenkung gesellschaftlicher Standards. Für das rohstoffarme Deutschland dürfte sich aus der politisch gewollten Reduzierung des Bildungsniveaus langfristig eine existentielle Gefährdung ergeben.

Der Kopf der österreichischen Identitären, Martin Sellner (30), hat unter Hinweis auf das Buch „Dilemmas of Inclusion: Muslims in European Politics“ von Rafaela M. Dancygier auf das Phänomen der „ethnischen Wahl“ hingewiesen, das sich aus den ethnisch-religiösen Bruchlinien ergibt. Anhänger des Islam wiesen „eine starke Gruppenidentität, mit intensiver Kohäsionskraft und tendenzieller Abwertung der Kultur des Gastlandes (auf). Dancygier beweist: Muslime wählen tendenziell als ethnischer Block und gegen ihre sozioökonomischen Präferenzen.“

Die USA sind schon einen Schritt weiter. Der Publizist Martin Lichtmesz hat in der Schrift „Rassismus. Ein amerikanischer Alptraum“ dargestellt, wie die Identitäts- sich zur Rassenfrage zugespitzt hat. Die Situation ist wahrhaft schizophren. Einerseits wird die Existenz von Rassen geleugnet, andererseits wird permanent gegen „Rassismus“ und „Rassendiskriminierung“ agitiert. Dieser „Rassismus ohne Rasse“ richtet sich exklusiv gegen die Weißen bis hin zu genozidalen Phantasien.

Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat 2017 das Verfahren gegen ein ehemaliges Vorstandsmitglied eines türkischen Vereins eingestellt, der auf Facebook Haß-Posts gegen Deutsche – „Köterrasse“ – veröffentlicht hatte. Die Allgemeinheit der „Deutschen“ sei kein geeignetes Tatobjekt, da sie sich nicht als unterscheidbarer Teil der Gesamtbevölkerung abgrenzen lassen. Auch der Tatbestand der Volksverhetzung (Paragraph 130 Strafgesetzbuch) stelle auf einen Teil der Bevölkerung, aber eben nicht auf die gesamte Bevölkerung ab. Vor dem Hintergrund der identitätspolitischen Entwicklung klingen solche Sätze weltfremd. Als Zielobjekt der Beschimpfung sind erkennbar die ethnischen Deutschen innerhalb der Gesamtbevölkerung gemeint gewesen. Auf diese Tendenzen versucht die Identitäre Bewegung zu reagieren. Sie ist defensiv ausgerichtet, ein letztes Aufgebot, das den kommenden – in Amerika schon gegenwärtigen – Grundkonflikt in der Öffentlichkeit bewußtzumachen versucht.

Weltfremd ist deshalb auch die Einschätzung im Verfassungsschutzbericht 2017, „angesichts der auf ethnisch, völkisch-abstammungsmäßigen Kriterien fußenden einwanderungskritischen und islamfeindlichen Haltung der IBD liegen tatsächliche Anhaltspunkte für eine rechtsextremistische Bestrebung vor, die eine Bearbeitung der Gruppierung durch das BfV im Rahmen eines Verdachtsfalls begründen“. Solche staatlichen Maßnahmen sind geeignet, die Deutschen gegen den identitätspolitischen Radikalismus wehrlos zu machen.