© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/19 / 08. Februar 2019

Grenzpfosten haben ausgedient
Flüchtlingsdrama in Beziehungsdynamik: Der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein wirft einen skeptischen Blick auf die kommenden Jahre
Felix Dirsch

In einigen Jahren wird man wohl auf eine beträchtliche belletristische Literatur zur Flüchtlingswelle des Jahres 2015 und den Folgeereignissen zurückblicken können. Schon jetzt liegt eine Reihe von Titeln vor, von denen der Roman von Jenny Erpenbeck „Gehen, ging, gegangen“ trotz auffallender Einseitigkeit bei der Behandlung des Themas die meiste Resonanz gefunden hat. Da bleibt im Sinne einer multiperspektivischen Sicht auf die schillernde Problematik noch viel zu tun.

Einen anderen Blickwinkel als Erpenbeck, die die Migrationseuphorie der Intellektuellen weithin teilt, wählt der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein (57). In seinem jüngsten Werk entscheidet er sich für eine neutrale Haltung in der Kontroverse. Er will die Meinung der Rezipienten nicht voreingenommen beeinflussen. Gerade diese Position ermuntert zum Lesen. Der Verfasser hat mehr zu bieten als nur eine verspätete Rechtfertigung des Willkommensklatschertums.

Gstreins Buch verbindet das innenpolitische Thema Nummer eins mit einer Beziehungsgeschichte, die es in sich hat. Der Gletscherforscher Richard, ein Wissenschaftler mittleren Alters, ist mit der Schriftstellerin und Journalistin Natascha verheiratet. Die Ehe kriselt. Da steht eine Flüchtlingsfamilie aus Damaskus vor der Tür. Natascha beschließt, sie in ein Ferienhaus am See einzuquartieren, das sie mit ihrer Schwester geerbt hat. Die Meinung der beiden Protagonisten repräsentiert in etwa die unterschiedlichen gesellschaftlichen Standpunkte. Natascha meint natürlich, es gebe viel zu tun bei der Sorge um die Neubürger. Ihr Gatte hingegen ist skeptisch, ihn umgibt eine kühle Distanz. Natascha hingegen entwickelt einen nahezu neurotisch anmutenden Aktivismus zugunsten der Fremden.

Dunkeldeutschland darf nicht fehlen

Viele Episoden werden besonders köstlich geschildert. Die das linksliberale Intellektuellenmilieu verkörpernde Ehefrau ist spürbar pikiert, als der muslimische Gast Bassam zum Christentum konvertieren will – und das sogar mit dem Ernst eines echten religiös Erweckten! Die atheistische Herbergsmutter findet es unbegreiflich – anders als der gegenüber Religion aufgeschlossene Richard –, wie jemand aus einem anderen Kulturkreis auf eine solche Idee kommen kann. Der Andersartige soll doch andersartig bleiben! Sich am besten nicht integrieren, schon gar nicht assimilieren! Man merkt direkt die Angst des Gutmenschentums vor einer zu großen Annäherung an die einheimische Kultur, die von diesem Milieu im Grunde genommen verachtet wird. Wenngleich Gstrein vor einer zu starken Zuspitzung zurückschreckt: Das böse Wort „Laßt uns mit den Deutschen nicht allein“ ist im Hintergrund nicht zu überhören.

Die Ereignisse im Seehaus erweisen sich als Belastung des ohnehin schwierig gewordenen Miteinanders der Eheleute. Hier gelingt es dem Autor stellenweise, einen beeindruckenden Spannungsbogen aufzubauen. Immer wieder tauchen obskure Gestalten auf, von denen man nicht so richtig erfährt, für wen sie eigentlich eine Bedrohung darstellen. Die Polizei muß anrücken. Sind es Rechtsradikale, die den Gästen etwas antun wollen? Handelt es sich um Einbrecher? Was wollen die jungen Leute, die um das Anwesen schleichen? Ganz klar wird das nicht. Etliches spricht für eine Art Bürgerwehr der Nachbarn. Jedenfalls kommt es zu Anfeindungen von jenen, die für das humanitäre Engagement nicht viel Verständnis aufzubringen scheinen. Ein bißchen Dunkeldeutschland darf wohl nicht fehlen. Hier hält Richard zu Natascha, der Beziehungskrise zum Trotz.

Im Laufe der Erzählung entfernen sich die Ehepartner voneinander. Sie nähert sich dem Vater der Flüchtlingsfamilie, er liebäugelt mit einer Liaison mit dem Kindermädchen. So recht wird aber am Ende nicht klar, ob es bei allen Unstimmigkeiten auseinandergeht oder ob sich beide doch noch einmal zusammenraufen. Viele Dialoge zwischen den Eheleuten sind eindrucksvoll. Man merkt den Ernst der Lage: Es geht um die kommenden Jahre, nicht nur um den Augenblick. Daher werden stets auch Fragen aufgeworfen, die sich um Zukunft, um Alter, um Perspektive und so fort drehen. Auch aus diesem Grund ist der Schluß offen. Dies betrifft auch den Blick auf die wahrscheinliche Zukunft des eigenen Landes.

Der Autor schafft es gekonnt, die Kritik in den aktuellen Debatten in eine Beziehungskiste zu verpacken. Manche Rezensenten haben eingewandt, daß die Geschichte an einigen Stellen nicht richtig vorwärtskommt. Die Absichten des Autors sind in der Tat zuweilen unklar. Will er eine aus dem Leben gegriffene Beziehungsgeschichte schreiben, von deren Höhen und Tiefen erzählen? Oder möglicherweise Handlungsanweisungen zum Umgang mit Zugewanderten erörtern?

Tiefendimension offenbart eine Moral

Oberflächliches Lesen verdeckt möglicherweise die Tiefendimension des Textes, der doch eine Moral offenbart. Sie wird vielleicht am deutlichsten, wenn man einen peripher anmutenden Satz des Flüchtlingsvaters Farhi näher betrachtet. Dieser führt ein eher merkwürdiges, angeblich russisches Zitat an, demgemäß lediglich zwei authentische Berufungen existieren: die zum Dichter und die zum Grenzpfosten. Hier wird, so versteckt wie nur denkbar, ein alter Topos der Kulturkritik lebendig, der besagt, daß die echten Seher und Propheten verschwunden seien. Und die Grenzpfosten? Auch die haben angeblich ausgedient, so hört man öfter von seiten der Deutungseliten. Für Herrn Farhi muß selbst ein Grenzpfosten an seine Mission glauben. Wenn man nichts Eigenes besitzt, braucht man es auch nicht abzugrenzen.

Für diese Sicht gibt es noch andere Belege: Richards bester Kollege kann nicht begreifen, was im Heim des Freundes vor sich geht. Nicht ganz aus der Luft gegriffen dürfte sein, wenn man hier eine Umschreibung des Blicks von außen auf Deutschland sieht. Der britische Historiker Anthony Glees amüsierte sich vor nicht langer Zeit über den deutschen „Hippiestaat“ – und wohl nicht nur er.

Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre. Roman, Carl Hanser Verlag, München 2018, gebunden, 288 Seiten, 22 Euro