© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/19 / 08. Februar 2019

Der Flaneur
Morgens um neun
Bernd Rademacher

Morgens halb zehn in Deutschland“ sei Zeit für ein Päuschen, warb ein Keksriegelhersteller in den Neunzigern. Morgens halb zehn scheint vorverlegt worden zu sein.

Die meisten Geschäfte in der Innenstadt öffnen um neun Uhr. Zur Arbeit fahre ich mit dem Rad in gut zwanzig Minuten bis ins Zentrum. Auf dem Weg werde ich heute gleich mehrmals Zeuge einer gemeinschaftlichen Rast: Vor einer Bäckerei stehen fünf bis sechs Handwerker in Blaumännern und nutzen die Motorhaube eines Firmenwagens als Tisch für ihre Kaffeebecher und Brötchentüten. 

Ist das diese „Work-Life-Balance“ oder die „Entschleunigung“, von der alle reden?

Im nächsten Bäckereicafé eine Ecke weiter sitzen vier Beschäftigte der Stadtwerke in gelben Overalls mit Reflektorstreifen am Fenster über ihren Kaffeepötten. In einem parkenden Streifenwagen am Straßenrand dösen zwei Beamte in die Autositze versunken vor sich hin. 

An der nächsten Kreuzung stehen ausgerechnet vor einer Boutique für Schwangerschaftsmode, die gerade öffnet, zwei Verkäuferinnen und rauchen aufeinander eintratschend. Die drei Jungs von der kommunalen Abfallwirtschaft stehen in ihren orangenen Jacken breitbeinig mit dampfenden „To-go“-Bechern vor dem Schnellrestaurant.

Am Ende der Straße habe ich mein Ziel erreicht. Oben steige ich aus dem Fahrstuhl, betrete das Büro und grüße die Kollegen, die plaudernd vor der röchelnden Kaffeemaschine stehen, während der Milchschaum in den Tassen nach oben steigt. 

Ist das der „kollektive Freizeitpark“, von dem Kanzler Helmut Kohl einst sprach? Oder die oft geforderte „Entschleunigung“? Oder optimieren die alle nur ihre „Work-Life-Balance“, um dem gefürchteten „Burn-out“ zu entgehen? 

Egal, ich setze mich an meinen Schreibtisch, rolle eine wenig mit dem Stuhl nach hinten – und packe erst mal meine Brotdose und Thermoskanne aus.