© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/19 / 15. Februar 2019

„Viele Bürger ahnen gar nichts davon“
Peter Boghossian und zwei Kollegen haben in den USA für einen Skandal gesorgt: Es gelang ihnen, soziologische Nonsens-Studien, die sie frei erfunden hatten, zu publizieren – weil deren Resultate gesellschaftspolitisch erwünscht sind
Moritz Schwarz

Herr Dr. Boghossian, was hat Ihre Eulenspiegelei, bekannt geworden als „Grievance Studies Affair“ (siehe Seite 16), bewiesen?

Peter Boghossian: Nun, so ganz ist das noch gar nicht abzusehen, denn das alles ist noch nicht „verdaut“. Auf jeden Fall aber hat es unter den normalen Bürgern, die nichts über die Situation an unseren Hochschulen wissen, für Aufmerksamkeit gesorgt und ihnen das Problem vor Augen geführt. Außerdem bekommen wir plötzlich Zuspruch und Unterstützerzuschriften mit vollem Namen. Sprich, die Menschen sind ermutigt, diese Mißstände an den Unis offen zu kritisieren. Während das zuvor kaum jemand gewagt hat, aus Angst sonst als ein „Extremist“, „Rassist“ oder „Nazi“ beschimpft zu werden. Das ist schon eine enorme Veränderung!

Aber hat der Fall auch etwas bei den Verantwortlichen bewirkt, also bei denen, die solche Art Sozialwissenschaft betreiben?

Boghossian: Die Sache hat ihnen immerhin gezeigt, daß sie nicht in der Lage sind, schwachsinnige Inhalte von ihren „wissenschaftlichen“ zu unterscheiden. Was allerdings eigentlich auch nicht verwunderlich ist, schließlich sind letztere ja selbst der letzte Schwachsinn.  

Warum?

Boghossian: Na, ich bitte Sie, was für Schlüsse kann man denn daraus ziehen, wenn sich frei erfundene Jokus-Studien ebenso „glaubwürdig“ lesen wie das, was diese „Wissenschaft“ sonst produziert? Da müßte eine ernsthafte Wissenschaft doch nachdenklich werden. Stellen Sie sich mal vor, es wäre gelungen, im Fach Ingenieurswissenschaft erfolgreich eine Studie zu publizieren, laut der man Autobahnbrücken aus Balsaholz bauen kann. Was wäre die Reaktion? Genau: O Gott, wie peinlich! Danke, daß ihr uns auf diese Schwachstelle aufmerksam gemacht habt! Wir werden alles tun, um diese zu beheben! Und wie war die Reaktion in unserem Fall? Die Namen derer, die Studien einreichen, werden künftig genauer überprüft, um möglichst zu erkennen, sollte wieder jemand so etwas wie wir versuchen. Muß ich das noch kommentieren? Übrigens, und das ist mir sehr wichtig, bin ich keineswegs der einzige, der ein Problem mit dieser Art „Wissenschaft“ hat. Nein, das geht sehr, sehr vielen Akademikern so. 

Was genau ist denn das Problem mit den sogenannten „Grievance Studies“, die sich damit beschäftigen, gesellschaftliche Mißstände („Grievance“) aufzudecken? 

Boghossian: Daß sie keinerlei präzise Erkenntnistheorie nutzt. Sie untersucht Themen aus Bereichen wie zum Beispiel Rassismus, Minderheiten oder Gender nicht auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Instrumentariums, sondern einer Agenda.

Konkret?

Boghossian: Nun, es geht ihr folglich nicht darum, Erkenntnisse über die Wirklichkeit zu gewinnen, was ja das Ziel tatsächlicher Wissenschaft ist, sondern der Wirklichkeit ihre Agenda aufzupfropfen.    

Sie meinen, im Gewand von Wissenschaft verfolgt man gesellschaftspolitische Ziele? 

Boghossian: Eben, das ist es. 

Können Sie ein Beispiel geben?

Boghossian: Zusammen haben wir ja zwanzig gefälschte Studien eingereicht. In einer geht es um angebliches Fett-Bodybuilding. Dieser Nonsens zielt auf eine Disziplin innerhalb der Grievance-Studies, die sich Fat-Studies – Dicken-Forschung – nennt. Doch geht es da nicht um das, was Otto Normalverbraucher sich darunter vorstellt, wie Rolle und Auswirkung von Fett in Ernährung und Gesundheit. Im Gegenteil, Fat-Studies zielen darauf, aufzudecken, daß die Probleme dicker Menschen nicht im Dicksein, sondern in den tiefverwurzelten Vorurteilen liegen, die die Gesellschaft ihnen gegenüber hege. Ziel ist, ein Bewußtsein nach dem Motto „dick und stolz darauf“ zu entwickeln und sich als interdisziplinäres Forschungsfeld an den Unis zu etablieren. Für die meiste Aufmerksamkeit hat aber wohl unsere Studie über eine bisher unentdeckte Vergewaltigungskultur in unseren Stadtparks unter den Hunden, die die Leute dort ausführen, gesorgt. Und zugegeben, sie war vielleicht in der Tat der absolute Höhepunkt an Schwachsinn unter all unseren wirklich schon ziemlich schwachsinnigen Studien.   

Dann ist die Fragwürdigkeit dieser Art Wissenschaft eigentlich recht offensichtlich? 

Boghossian: Für viele eben noch nicht. Ihr Ziel ist ja, Moral zu implementieren. Und ein Kollege, Professor Bret Weinstein, hat das in einem sehr passenden Bild zusammengefaßt: Diese Wissenschaft betreibe Ideenwäsche. Denn so wie Geldwäsche aus schmutzigem Geld scheinbar legales macht, mache sie aus politischen Meinungen scheinbar wissenschaftliche Fakten. Da wird irgendein Unsinn in einem Fachjournal dieser „Wissenschaft“ als bewiesen abgedruckt und gelobt. Und fortan gilt dieser Unsinn dann als wissenschaftlich belegt – denn, er hat ja in einem „wissenschaftlichen“ Journal gestanden. Es ist absurd!

Sie nennen das ganze eine Religion, warum? 

Boghossian: Der Normalbürger denkt doch, Glaube, das sei etwas aus dem Mittelalter oder vielleicht für den Islam typisch, aber doch nicht für den progressiven Teil unserer Gesellschaft. Irrtum, wir haben es tatsächlich mit einer Art neuer Religion zu tun! Sie finden dort alle die dafür typischen Merkmale, zum Beispiel das für diese Leute typische „Virtue Signalling“, also das demonstrative öffentliche Bekennen seiner korrekten Gesinnung – als einer neuen Form von Evangelisation. Oder die Vorstellung von traditionellen gesellschaftlichen Privilegien als eine neue Form der Idee der Erbsünde. Das Blasphemieverbot, das als Political Correctness wiederkehrt und so weiter. Es gibt allerdings auch einen Unterschied zwischen religiös Gläubigen und diesen Leuten. Religiöse Menschen glauben – und sagen das auch. Was immer wir von ihrem Glauben halten mögen, sie behaupten immerhin nicht, er sei Wissenschaft. Diese Leute dagegen unterscheiden sich mit ihrem quasireligiösen Glauben kein Stück vom Religiösen, weitergehend als diese beanspruchen sie aber, daß es sich dabei um Wissenschaft handele.            

Diese Leute, wie Sie sagen, nehmen für sich in Anspruch, gesellschaftlich fortschrittlich und politisch links zu sein – genau wie Sie. Schaden Sie mit Ihrer Kritik also nicht der gemeinsamen linken Sache?

Boghossian: Wenn ich zum Beispiel die Unwissenschaftlichkeit einer Lehre kritisiere, die aus dem konservativen Milieu kommt, dann bin ich wegen dieser Kritik doch nicht automatisch ein Liberaler, sondern einfach wissenschaftlich kritisch. Ebenso ist es, wenn ich etwas Unwissenschaftliches aus dem progressiven Milieu kritisiere. Auch dann bin nicht automatisch das Gegenteil, also ein Konservativer, sondern ebenso einfach kritisch. Eine wissenschaftlich fundierte Kritik sagt also überhaupt nichts über den politischen Standort dessen aus, der sie übt. Folglich ist es auch kein Widerspruch, selbst Linker zu sein und Linke wissenschaftlich zu kritisieren, wenn ihre Behauptungen wissenschaftlichen Kriterien nicht entsprechen.

In Deutschland wird konservative Kritik solcher Art als gegenstandslos, wenn nicht als „Hetze“ abgetan. Zeigt Ihr Experiment, daß man es sich damit zu leicht macht?  

Boghossian: Nochmal, mir ist es völlig egal, wer Kritik übt. Entscheidend ist, ob sie fundiert ist. Danach allein sollte sie beurteilt werden. 

Wie konnte sich diese Art Wissenschaft überhaupt etablieren, ausgerechnet an den Universitäten, die am besten dagegen hätten gefeit sein müssen, sind sie doch der Hort des analytischen Denkens? 

Boghossian: Diese Frage könnte Ihnen meine Mitstreiterin Helen Pluckrose weit besser beantworten als ich, da das ihr Gebiet ist. Ich will es dennoch versuchen: Wenn man in einer Echokammer lebt, dann entwickelt sich ein geistiger Isolationismus, der schließlich zu intellektueller Engstirnigkeit führt. Ständig spricht ja inzwischen jeder über „Diversität“. Doch was der Begriff mittlerweile tatsächlich beschreibt, ist geistige Homogenität. Nur farblicher Anstrich und gewähltes Geschlecht unterscheiden sich, doch das Denken ist gleichförmig geworden. Gerade an der echten, nämlich der geistigen Diversität fehlt es bei dem ganzen „Diversitäts“-Gerede. 

Das Entstehen eines Mißstands ist eine Sache, eine andere, dies sehenden Auges zuzulassen. Hätten Universitäten, wissenschaftliche Institutionen und auch Politik und Medien nicht eingreifen müssen?

Boghossian: Na ja, in unserem Fall haben ja wenigstens die Medien, konkret das Wallstreet Journal, unseren Schwindel entdeckt und öffentlich gemacht. Hut ab! Dabei waren noch gar nicht alle unsere Studien veröffentlicht, sondern nur ein Teil. Wobei einige auch abgelehnt wurden – immerhin. Doch meine ich, daß es nicht konstruktiv ist, jetzt darüber zu streiten, wer schuld ist. Worum es geht, ist den Mißstand zu beseitigen. Denn diese „Wissenschaft“ ist dabei, die Standards der Wissenschaft zu untergraben, unsere Gesellschaft zu beschädigen und sie auseinanderzudividieren, denn sie sät Mißtrauen gegenüber unseren wissenschaftlichen Institutionen.

Warum halten Sie das für eine so große Gefahr? 

Boghossian: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich habe eine christliche Studentin, die mich gefragt hat: „Warum sollte ich der Wissenschaft noch glauben, wenn die meisten Wissenschaftler radikale Linke sind?“ Verstehen Sie? Wir brauchen das Vertrauen der Bürger in die Seriosität der Wissenschaft, also muß sie auch seriös sein. Lassen wir dagegen zu, daß sie es nicht mehr ist, verlieren wir eine wichtige gemeinsame Basis unserer Gesellschaft. Und diese Leute machen sie kaputt. Ich habe ja keine Ahnung, wie diesbezüglich die Lage bei Ihnen in Deutschland ist, aber in den USA ist inzwischen das Mißtrauen des konservativen Teils des Volkes hoch. Diese Spaltung können wir uns nicht leisten. Dazu kommt, daß unsere Universitäten zu den Quellen der Wettbewerbsfähigkeit der USA gehören. Wenn wir es zulassen, daß deren Qualität weiter unterwandert wird, schaden wir dieser.         

Auch wenn Sie die Schuldfrage nicht interessiert: Müssen sich Universitäten, Politik und Medien nicht nachsagen lassen, mindestens versagt, wenn nicht sogar sich zu Mitläufern und „willigen Vollstreckern“ der Entwicklung gemacht zu haben?  

Boghossian: Ich mag Ihnen da gar nicht widersprechen. Ihre Kritik trifft schon zu. Aber ich wiederhole, ich möchte mich damit nicht aufhalten, weil das nicht hilft, das Problem zu lösen.

Wie wollen Sie die Ursachen denn beseitigen, wenn Sie sie nicht feststellen – sprich, die Schuldigen lokalisieren und benennen?

Boghossian: Wenn wir jetzt anfangen, erstmal die Unis, die Bildungspolitiker und die Journalisten zu beschimpfen, erzeugen wir vor allem eines, eine Wagenburgmentalität. Genau das aber dürfen wir nicht, wenn wir die Mißstände beseitigen wollen. Eben dafür müssen wir diese Leute gewinnen. Es geht einfach um zuviel – um das Leistungsniveau unserer Wissenschaft, also um unseren Wissenschaftsstandort.

Ist die Gefahr, die Sie beschreiben, in den USA inzwischen gesellschaftlich erkannt?  

Boghossian: Das eben ist das Problem. Denn viele normale Leute im Land ahnen immer noch nichts davon. Und unter denen, die überhaupt davon wissen, sind etliche, die denken: Ach, das sind die Spinnereien von Akademikern. Das betrifft uns hier im wahren Leben doch gar nicht. Und da sage ich: Falsch! Denn was sich heute an den Unis durchsetzt, das schwappt morgen in unsere Gesellschaft. Und das ist ja auch längst der Fall. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Gerade lese ich von einer Bezirksbücherei mit Kursen für Gleichheit. Ich frage Sie, wie kommt eine Bezirksbücherei auf so eine Idee? Haben sie das von den naturwissenschaftlichen Fakultäten? Nein, das kommt von diesen Grievance-Studies. Deren Strategie ist es, Begriffe zu entern, die bereits etabliert sind, wie zum Beispiel Gleichheit oder Gerechtigkeit. Begriffe also, die bekannt und somit unverdächtig sind, sie dann aber mit neuen Inhalten zu füllen. Sie schmuggeln also sozusagen ihre Inhalte in die Gesellschaft hinein, indem sie bereits Verankertes in ihrem Sinne umpolen. 

Für eine Ihrer Nonsens-Studien haben Sie Passagen aus „Mein Kampf“ verwendet. Soll das eine strukturelle Übereinstimmung der Grievance-Studies mit Totalitarismen wie etwa dem Nazismus aufzeigen?

Boghossian: Ich weiß nicht, ob der Fall dieser Studie das beweist, so weit würde ich wohl nicht gehen. Und diese Studie stammt auch nicht von mir, sondern von meinem anderen Mitstreiter James Lindsay. Dennoch würde ich sagen, daß diese Übereinstimmung in der Tat vorhanden ist. Das Problem ist nur, daß das diesen Leuten nicht bewußt ist. Der Psychologe Steven Pinker sagt, daß man nicht deshalb amoralisch handelt, weil man sich eh als Schuft sieht, sondern sogar weil man sich für besonders moralisch hält. Und ihre Ziele sind ja auch moralisch – etwa der Kampf gegen Rassismus. Wenn das aber dazu führt, daß jeder jederzeit Angst haben muß, angeklagt zu werden und sich deshalb keiner mehr traut, seine Meinung zu sagen oder auch nur Fragen zu stellen und sich Universitäten von Orten des Wissens, Denkens und Forschens in Produktionsstätten für Ideologien verwandeln, dann muß das gestoppt werden. 






Dr. Peter Boghossian ist Assistant Professor (Privatdozent) für Philosophie an der Staatsuniversität von Portland Oregon/USA und Autor des Buches „A Manual for Creating Atheists“ (2013). Geboren wurde er 1966 in Boston. 

Foto: Skulptur in der „Eulenspiegelstadt“ Mölln: „Was ist von ‘Wissenschaft‘ zu halten, deren Inhalte sich lesen wie die von Jokus-Studien?“

 

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