© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/19 / 15. Februar 2019

Pankraz,
die Rohdaten und der neue Kolonialismus

Neuer Höhepunkt im Kampf um den Datenschutz: Den sogenannten Rohdatlern geht es jetzt an den Kragen. Die hatten bisher ungeniert behauptet, man müsse unterscheiden zwischen schützenswerten Geschäftsdaten einerseits und  bloßen Rohdaten andererseits. Rohdaten wie  Lebensalter, Geburtsdatum und -ort, Geschlecht, Staatsangehörigkeit und momentaner Hauptwohnsitz könnten gar nicht geschützt werden, jedes Einwohnermeldeamt, jedes Paßamt und jedes Krankenhaus forderten sie auf gesetzlicher Grundlage ein; geordnetes effektives Leben ohne die Öffentlichkeit von Rohdaten sei gar nicht möglich.

Doch jetzt kommt Nick Couldry, langjähriger Professor für Medienwissenschaft an der London School of Economics, und verkündet mit donnerndem Pathos: Rohdaten gibt es gar nicht, wer mit dem Wort hantiert, ist ein übler Kolonialist und verpestet nur den öffentlichen Diskurs. Er, Nick Couldry, habe das soeben in einem neuen Buch klargestellt, das er zusammen mit seinem Kollegen Ulises A. Mejias herausgebracht habe. Das Stichwort in dem Werk laute „Datenkolonialismus“, und der müsse bis aufs Messer bekämpft werden wie jeder andere Kolonialismus auch.

Wie einst, dozieren Couldry und Mejias, die alten  Kolonisatoren aus Europa ohne das geringste schlechte Gewissen die Rohstoffe der eroberten Länder raubten, da diese ja „nur herumlagen“ und sich niemand von den Eingeborenen um sie kümmerte, so raubten heute herrschsüchtige und geldgierige Kräfte auch im Westen den modernen Normalbürger aus, welcher unschuldig an „Rohdaten“ glaube. Originalton Couldry: „Mit Daten verhält es sich heute ähnlich: Es wird suggeriert, daß die Daten über unser Leben einfach so da seien und von Konzernen verwendet werden müssen, um gesellschaftlichen Fortschritt zu erzielen.“


Und weiter, in einem Interview mit Zeit Online: „Das ist unserer Analyse nach der Beginn eines neuen Kolonialismus, bei dem unser gesamtes Leben in Daten umgewandelt wird und damit völlig neue Geschäftsfelder ermöglicht. Wir nennen das Datenkolonialismus, weil es das einzige Wort ist, das erfassen kann, wie groß diese Veränderung ist.“ Pankraz fügt ergänzend hinzu: Natürlich sind die Veränderungen im Zeitalter von Big Data groß, aber die Differenzierung in Rohdaten und zusätzlichen Politik- und Geschäftsdaten wird dadurch nicht überflüssig, sondern um so notwendiger und zielführender.

Mit „Kolonialismus“, also mit Länder-Eroberung und Rohstoffraub, hat diese Differenzierung nichts zu tun; die Einführung des Wortes in die aktuelle Datendiskussion ist ein bloßer Modegag, der die Verkaufschancen des Buches erhöhen soll. Denn um es zu wiederholen: Die Öffentlichkeit einer gewissen Zahl von Rohdaten ist unverzichtbarer Bestandteil unserer sozialen Existenz überhaupt. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß sich Nick Couldry seinerseits jeder Preisgabe von Rohdaten widersetzt. Kein Wikipedia- oder sonstiger Lexikon-Eintrag verrät uns, wo und wann er geboren wurde oder wo er heute lebt.

Freilich, daß er Lehrer an der London School of Economics ist – für das Bekanntwerden dieser Information ist auf geradezu üppige Weise gesorgt; fast könnte man glauben. die  „School“ habe ihn, Couldry, schon vor längerer Zeit regelrecht kolonialisiert und beute ihn nun als Rohstoff aus, ohne gebührend dafür zu zahlen. Doch Spaß beiseite, die wissenschaftliche Diskussion über Datensammlung, Datengeheimnis und Datenklau bedarf wirklich eines präziseren Vokabulars, als es bloße Tagesmoden liefern können. Die tagtäglichen sogenannten Leitmedien fallen als Lieferanten aus.

Als neulich ein junger, abgebrühter, aber höchst professioneller Datenknacker (von einem eifersüchtigen „Freund“ denunziert) öffentlich beschuldigt wurde, Millionen Daten von Politikern und anderen Prominenten abgegriffen und veröffentlicht zu haben, war die allgemeine mediale Ratlosigkeit mit Händen zu greifen. Zunächst brüllten sie wie von der Tarantel gestochen in den Kanälen herum, doch schon nach zwei, drei Tagen verstummten sie schlagartig. Man erfuhr buchstäblich kein Wort mehr, weder etwas über den Täter noch darüber, welche Daten er nun den Politikern und anderen Prominenten „geraubt“ hatte.


Gesetzlich ist das Sammeln und Aufbewahren von Daten, auch von politischen und Geschäftsdaten, nicht verboten, es gibt keinen juristischen Tatbestand namens „Datendiebstahl“.  Selbst das absichtliche Bekanntmachen von Daten ist nicht strafbar, es sei denn, es handelt sich um extra deklarierte Staatsgeheimnisse oder man begeht mit der Bekanntgabe eindeutig kriminelle Taten wie Erpressung, Nötigung oder frontale Beleidigung. 

Aber auch in den agressivsten Kritiken beispielsweise an Facebook wird wohlweislich nicht von kriminellen Handlungen  gesprochen, die da im Spiele wären.

Vielmehr spricht man in der Regel von der „marktbeherrschenden Stellung“ der Firma, die es ihr ermögliche, beim Sammeln von Daten kleinere Konkurenten gewissermaßen aufs Kreuz zu legen, indem sie deren Datensammlung einfach übernähme, ohne dabei auch nur einen einzigen Dollar herzugeben. Fremde Datensammlungen, so heißt es, würden von Facebook lediglich hier und da ein bißchen abgeändert, ein bißchen „aktualisert“, und dann das Ganze noch mit einem bedeutungsvollen, Aufmerksamkeit erregenden Namen versehen – schon gibt es eine weitere, hohen Ertrag versprechende Konzerntochter.

Das Bundeskartellamt hat vorige Woche ein Verbotsurteil gegen derlei Konzernpraktiken erlassen;  sie seien klar geschäftsschädigend und mit der gegenwärtigen Gesetzeslage unvereinbar. Facebook hat unverzüglich Berufung eingelegt. Geschäftsdaten, hört man von dort, sind doch keine simplen Rohdaten, sie verändern sich dauernd, man muß sie ununterbrochen realen Verhältnissen anpassen, wenn man mit ihnen Geld verdienen will.  Dem läßt sich kaum widersprechen. Das meiste Geld verdient Facebook übrigens durch den Handel mit Rohdaten.