© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/19 / 15. Februar 2019

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Nahrung A: Zu den menschlichen Universalien gehört die Ordnung des Geschlechtslebens. Oder genauer gesagt: sie gehörte zu den menschlichen Universalien. Denn wir gönnen uns den Luxus einer sozialen Form, in der Sexualität kaum gesetzlichen und keinen moralischen Sanktionen unterliegt. Wer das einfach als Zugewinn an Selbstbestimmung betrachtet, sollte sich indes fragen, warum auf anderen Feldern, die traditionell frei waren von gesetzlichen und moralischen Regelungen, solche plötzlich überhandnehmen. Das gilt vor allem für die Ernährung und den Umgang mit Tieren. Dabei spielt die Vorstellung mit, daß es besondere Tierrechte geben müßte – als Äquivalent zu Menschenrechten –, aber stärker noch die Idee, daß der Verzehr von Tieren unsittlich sei. Die amerikanische Autorin Mary Eberstadt glaubt, daß diese Entwicklung, die ihren Ursprung in den USA hat, auf eine Verschiebung im puritanischen Codex zurückgeht. Der mußte zwar das Feld der Sexualität räumen, verwirklicht seine Reinheitsideale jetzt aber, indem er über Vegetarismus und Veganismus die Auffassung in Umlauf bringt, daß das Töten von Tieren genauso böse sei wie das Töten von Menschen und der Fleischgenuß beschmutze, im direkten wie im übertragenen Sinn.

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Die protestantische Versuchung: billige Gnade; die katholische: Inquisition.

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Der Anarchismus wird in seiner politischen Bedeutung weithin unterschätzt. Selbstverständlich spielen seine theoretischen Grundannahmen im strengen Sinn kaum eine Rolle. Aber anarchistische Kernvorstellungen haben sich seit ’68 überall verbreitet. Der Antiautoritäre Charakter ist das fatale Erbe, das uns die Wohlstandsrevolte hinterlassen hat. Er zersetzt die Ordnung mit bestem Gewissen, weil sich irgendwie schon alles selbst reguliert. Das erklärt das Auftreten der Kanzlerin, die den Schutz der Staatsgrenzen sabotiert, den Geistlichen, der das Kreuz ablegt, um keinen Anstoß zu erregen, die Mutter, die den Kindergartenknirps in seinem Zerstörungsdrang gewähren läßt, damit die Entfaltung seiner Persönlichkeit unbeschädigt bleibt, den Lehrer, der die Ahnungslosigkeit der Schüler bequemlicherweise als neuartige Kompetenz wertet.

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Die Schweizer Garde des Papstes hat neue Helme bekommen. Bisher handelte es sich – passend zu der Uniform im Stil des 16. Jahrhunderts – um einen „Morion“ aus Stahl, der von einem Schmied in Handarbeit gefertigt wurde und seinen Preis hatte, aufwendig zu putzen und zu polieren war. Das Nachfolgemodell stammt aus dem Drei-D-Drucker, ist schwarz und auch viel bequemer zu tragen: 570 Gramm an Stelle von 2 Kilo.

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Nahrung B: Nach der Entdeckung von sehr altem Bier, Käse und Kaugummi nun eine weitere Sensation: Der neolithische Mensch verzehrte schon Kaviar, jedenfalls der Vorfahr des Brandenburgers (Ausgrabung Friesack 4).

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Das Parlament des amerikanischen Bundesstaates New York hat am 22. Januar mit Stimmenmehrheit der Demokraten den Reproductive Health Act verabschiedet, der eine Abtreibung bis zur 24. Schwangerschaftswoche erlaubt; sollte das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren bedroht sein, kann der Arzt auch danach einen Abbruch vollziehen. Die juristischen Auswirkungen des Gesetzes sind erheblich, vor allem im Hinblick auf den Tatbestand des Mordes, der bis dahin einfach als Tötung einer Person definiert wurde; zukünftig gilt als „Person“ nur, wer „geboren ist und lebt“. In der Sitzung des Parlaments gab es einen Zwischenruf: „Möge der allmächtige Gott diesem Staat gnädig sein!“

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Aurélie Dupont, Direktrice des Balletts der Pariser Oper hat den ukrainischen Tänzer Sergei Polunin aus dem Ensemble des Hauses entfernt. Zwar könne es keine Zweifel an der künstlerischen Meisterschaft Polunins geben, aber seine „homophoben“ und „sexistischen“ Äußerungen widersprächen den Werten der Opfer. Auslöser des Vorgehens war eine Stellungnahme Polunins via Instagramm: „Seid nicht effeminiert, seid Männer, Wölfe, Oberhäupter der Familien. Es gibt Frauen, um Ballerinen zu sein, seid Männer. Die Männer müssen Männer sein, die Frauen müssen Frauen sein.“

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Die Suche nach dem Kitt, der das soziale Ganze zusammenhält, nimmt allmählich hektische Formen an. Bezeichnend auch, daß dabei der Verfassungspatriotismus gar nicht mehr in Betracht gezogen wird. Dessen Abstraktheit war schon immer hinderlich, genauso wie das Bemühen, ihn mit irgendwelchen Werten gefühlmäßig zu verbinden. Bleiben die Bemühungen des Bundespräsidenten, Schwarz-Rot-Gold als Symbol fürs Bunte, Diverse und Kosmopolitische zu reklamieren. Man kann das eher hilflos oder eher komisch finden. In jedem Fall ist das Scheitern sicher: Was da kommt, kommt zu spät, oder aus der falschen Richtung, oder beides.


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 1. März in der JF-Ausgabe 8/19.