© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/19 / 15. Februar 2019

Jugendliche Weltflucht
Behagliche Schwermut: Anatol Schusters Kinodebüt „Luft“ handelt von der Liebesbeziehung zweier Mädchen
Sebastian Hennig

Als Abschlußfilm an der Filmhochschule hat Anatol Schuster seine erste abendfüllende Produktion vorgestellt. „Luft“ wird vom Verleih mit dem Billett eines lesbischen Liebesfilms auf die Reise in die Öffentlichkeit gesandt. Es spricht für den Film, daß er nicht ganz in dieser Schublade verschwindet. Zugleich bleibt aber auch fraglich, ob er ohne diese Einrahmung über ausreichende ästhetische Standfestigkeit verfügt.

Die Geschichte ist eigentlich simpel. Ein junges Mädchen wirbt unnachgiebig um die Neigung einer Altersgenossin, bis eine innige Beziehung beginnt, die auch auf körperlicher Nähe gründet. Darin liegt nichts Ungewöhnliches. Von einer repressiven Gesellschaft, die ein solches Vortasten diffamiert, kann heute ernsthaft nicht mehr die Rede sein. Den Zauber und die Glut dieser frühen erotischen Gefühlswallungen setzt der Film glaubhaft in Szene. Der Zuschauer beobachtet die jungen Leute bei ihrem Gärprozeß. Dabei breitet sich zugleich aber auch eine giftige Schläfrigkeit aus. Denn der Regisseur betätigt sich mehr als Empfänger von Stimmungen, als daß er Gestaltung erzeugt. Der gesamte Film zehrt ausschließlich von der mädchenhaften Aura der Protagonistinnen, einer temperamentvollen Blonden und einer Anmutigen mit dichten Augenbrauen. Doch als die beiden gegen Ende des Films zueinandergefunden haben, ist der besondere Duft sogleich verflogen, der in der unaufgelösten Spannung ihres Verhältnisses gelegen hat. 

Die 17jährige Manja (Paula Hüttisch) lebt mit der Mutter (Anna Brodskaja), Großmutter und Schwester in einem futuristischen Hochhaus am Rande der Stadt. Die Familie stammt aus Kasachstan. Babuschka erzählt ihrem „Engelchen“ von der magischen Wirkung der Pilze und den Seelen der Verstorbenen, die in den Bäumen weiterleben. Mit schwermütigen Melodien akkompagniert die serbische Akkordeonistin Marija Kandic als Manjas Schwester diese brütende Ereignislosigkeit.

Die Familie ohne Männer kümmert sich nebenbei um zwei kleine Kinder eines im selben Haus wohnenden orientalischen Paars. Tariq (Murat Seven) ist verantwortungslos wie ein Kind. Auch hier verbreitet sich eine Poesie der Schwäche und der Auflösung. Er wirft dutzendweise künstliche Blumen aus dem Hochhausfenster. Mit slawischem Akzent beschreibt Manjas Mutter die Lage: „Tariq ist ein Nichtsnutz. Die Männer sind ein Ungluck.“ Ihre unausgesetzt musizierende Tochter korrigiert sie: „Mama, du vergißt die Liebe.“

Während Manja still im Wald sitzt, verschreckt die ebenfalls 17jährige Louk (Lara Feith) den Jägern mit einer Sprengladung das Wild. Auf der Flucht vor ihnen stößt sie mit Manja zusammen. Dieser Anstoß im Wortsinne bewegt das stille Mädchen, fortan die Nähe des blonden Wirbelwinds zu suchen. Dabei wird sie in eine Clique gezogen, die sich in einer aufgelassenen Fabrikhalle sammelt.

Flitterwochen und Trauerarbeit

Sie wird Zeugin einer haarsträubenden Mutprobe von Louk, die deklamiert: „Keine Lügen, keine Spuren, keine Angst.“ Daß die Jungs ihre Streiche immer filmen müssen, ist für sie „so’n Männerding, immer etwas hinterlassen zu müssen, um etwas zu beweisen.“ Die jugendlichen Rapper beziehen auch die musizierende Schwester in ihren Kreis mit ein. Es ist alles ganz paradiesisch. Man ist lieb zueinander, und wenn sich jemand erregt, dann heißt es: „Chill mal.“

Es werden schöne Bilder arrangiert. Die Mädchen sitzen an der Abbruchkante eines alten Tagebaus im Saarland und blicken nach Lothringen hinüber. Im Walde scheint das Licht durch die Zweige, und die Blätter rascheln im Wind. Loslassen und Abschied von der Vergangenheit werden propagiert. Paradoxerweise ist zu beobachten, wie die Menschen davon nicht schöner werden. Denn gerade ihr Leiden und ihre Verbindlichkeit haben ihnen Anmut und Würde verliehen, die ihnen nun in der Erfüllung und der Emanzipation abhanden kommen. 

Als Manja auf dem Tisch des ihre Großmutter behandelnden Arztes (Matthias Neukirch) ein Bild des begehrten Mädchens erblickt, stellt sie fest: „Ein schönes Foto.“ Der Mann bezieht das irrtümlich auf den künstlerischen Raumschmuck an der Wand. Mit der beharrlichen Energie der stillen Wasser spürt sie nun ihre Freundin auf. Doch die Unabdingbarkeit des Wildfangs erweist sich als verzweifelte Flucht nach vorn. Ihre Mutter ist ins Meer gegangen und hat sie beim Vater zurückgelassen. Als Manja gegenüber dem Schulleiter die Verantwortung für einen von Louk ausgeführten Streich auf sich nimmt, legt sie eine falsche Spur und lügt aus Sorge um die Freundin, womit sie gegen deren strenge Gebote verstößt, ohne ihnen zu widersprechen. Die Krise wird manifest und muß durch eine therapeutische Familiensitzung behandelt werden.

In den letzten zehn Minuten des Films begeben sich die beiden Mädchen zu Flitterwochen und Trauerarbeit auf den Weg nach Frankreich ans Meer. Nach einer Liebesnacht wechselt dann Manja vom Rücksitz an das Steuer des Autos. „Louk ist tief wie das Meer. Manja rein wie die Luft. Ihre Liebe: Ohne Angst. Ohne Lügen. Ohne Spur“ lautet das verkündete Programm des Films, der flüchtig ist wie ein Parfüm. Alles an ihm ist ebenso zierlich gestaltet wie die Brutalität des Hochhauses, in dem Manjas Familie wohnt, durch einen ätherischen Anstrich gemildert ist. Die reinliche Situation des Jugendtreffs in der Fabrikhalle hat die Anmutung eines Werbefilms für Limonade. Die behagliche Schwermut jugendlicher Weltflucht wird in „Luft“ gegen den unbequemen Ernst des Lebens ins Feld geführt.