© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/19 / 15. Februar 2019

Großraum-Konzept und Deutschlands Mission
Europas leere Mitte
Thorsten Hinz

Der Wegfall der Binnengrenzen im EU-Europa hat statt zur Annäherung zu Zerwürfnissen zwischen den Mitgliedstaaten geführt. Das ist nur folgerichtig. Die Nationalstaaten haben durch das Schengen-Abkommen die Möglichkeit, ihr Territorium einzuhegen, weitgehend aus der Hand gegeben, ohne daß ihr Verzicht durch den Schutz der Außengrenze des Schengen-Raumes kompensiert wurde. Das hat die Masseneinwanderung zwar nicht verursacht, aber erleichtert. Chaos und Kontrollverlust werden noch verschlimmert, weil Deutschland als kontinentales Herzland durch Mutwillen, Unterlassung, Hypermoral und schiere Dummheit auf Dritte-Welt-Migranten eine Magnetwirkung ausübt.

Es fehlen die klare Markierung und entschlossene Verteidigung des europäischen Großraums. Erste Voraussetzung wäre das Bewußtsein von einer gesamt­europäischen Raumhoheit und einer politischen, kulturellen, historischen Schicksalsgemeinschaft, in der die nationalen Unterschiede nicht verschwinden, angesichts des globalen Macht- und Bedeutungsverlusts des Kontinents jedoch an Bedeutung verlieren.

Um einen Großraum zu konstituieren und seinen Zusammenhalt zu wahren, braucht es eine politische Idee, in der die Beteiligten sich wiederfinden und die sie verbindet. Sie müßte heute darin bestehen, die Souveränität der europäischen Nationalstaaten als etwas Wandelbares zu begreifen und einen Teil von ihr an eine gemeinsame, supranationale Instanz zu delegieren, die ein schützendes Dach bildet, unter dem die Vielfalt der nationalen Kulturen und Lebensformen sich erhalten und organisch weiterentwickeln kann, statt – wie gegenwärtig – je einzeln durch übermächtige äußere Zwänge mechanisiert, marginalisiert und kujoniert zu werden.

Da eine solche Idee nicht vorhanden ist, kann sie nicht wirksam werden. Die Situation ist desolat. Der deutsche Hypermoralismus in der Zuwanderungsfrage hat bei den Briten das Faß zum Überlaufen gebracht und zum Brexit geführt; außerdem hat er einen neuen Graben zwischen Ost und West aufgerissen. Außenpolitisch ist die Union aufgrund interner Gegensätze schwach; militärisch ist sie bedeutungslos. Kulturell zehrt Europa von seinem gewaltigen Erbe, doch seine aktuelle „Softpower“ ist im Vergleich zur amerikanischen gering.

Bleibt als praktiziertes Glaubensbekenntnis der gemeinsame Markt. Tatsächlich hat Brüssel einen wirtschaftlichen Großraum geschaffen, in dem die Marktgesetze an keine nationalen Grenzen mehr stoßen. Die Kehrseite davon: Die Staaten werden entkernt, die Politik wird entmachtet und durch den Vollzug bürokratisch oktroyierter Vorschriften ersetzt. So können unter Berufung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit Zigeuner aus Rumänien und Bulgarien in das deutsche Sozialsystem einwandern, weil der Nationalstaat über keine Abwehrrechte mehr verfügt. Kulturelle Eigenheiten werden nivelliert, soziale Standards geraten ins Rutschen. Das alles führt zu Wut und Zorn in und zwischen den Mitgliedsländern.

Die geschichtliche Erfahrung zeigt, daß staatliche Gebilde und Imperien auf einen machtbewußten und strategisch handelnden Nukleus zurückgehen. Die Vereinigung von Aragon und Kastilien legte den Grundstein für den spanischen Nationalstaat. Die dynastische Linie Kapetinger-Valois-Bourbon schuf den französischen Zentralstaat. In Italien führte das Königreich Piemont, in Deutschland Preußen die staatliche Einigung herbei.

Analog dazu böte die von Carl Schmitt Ende der 1930er Jahre konzipierte Großraum-Theorie eine Blaupause für Europa. Der italienische Philosoph Roberto Esposito schrieb im Mai 2018 in der Neuen Zürcher Zeitung, „die brutale, aggressive Verwendung des Begriffs durch die Nationalsozialisten mindert keineswegs das Konzept vom Großraum, das in der Tat wieder in den Mittelpunkt der zeitgenössischen Geopolitik gerückt ist“. Schmitt sah die europäischen Klein- und Mittelstaaten zwischen die Mühlsteine des angelsächsischen Imperialismus und der kommunistischen Sowjetunion geraten, die beide auf die universelle Gültigkeit ihrer Rechtsauffassung beziehungsweise Ideologie pochten. Das globale Bedingungsgefüge hat sich gewandelt. Besondere Beachtung verdient heute die von der Uno vertretene Menschenrechtsideologie, die faktisch ein weltweites Ansiedlungsrecht für Migranten in Europa proklamiert.

Effektiv handlungsfähig sind die europäischen Staaten nur noch im Rahmen eines Großraumes, der die Freiheit und Individualität der Völker sichert, indem er sie vor dem Übergriff raumfremder Mächte – wozu auch die Migrationsbewegungen gehören – schützt. 

Unter diesen Umständen ist der auf das jeweilige Staatsterritorium fixierte Souveränitätsbegriff obsolet und seine Transformation in eine neue politische Qualität „geschichtlich unvermeidlich“ (C. Schmitt) geworden. Effektiv handlungsfähig sind die europäischen Staaten nur noch im Rahmen eines Großraumes, der die Selbständigkeit der „staatlich organisierten Völker“ bestehen läßt und ihre Freiheit und Individualität sichert, indem er sie vor dem Übergriff raumfremder Mächte – wozu auch die Migrationsbewegungen gehören – schützt. Der Großraum bildet sich um eine führende und tragende Macht, „deren politische Idee in einen bestimmten Großraum hineinstrahlt und die für diesen Großraum die Intervention großräumiger Mächte ausschließen“.

Theoretisch müßte diese Rolle Deutschland als dem Land mit dem größten Potential zufallen. Schmitts Schüler Ernst Rudolf Huber schrieb 1941: Der Großraum-Gedanke fordere, „daß wir die Achtung vor fremder Nationalität bewahren“, Deutschland müsse „den Schutz für die wirtschaftliche, kulturelle und politische Existenz der europäischen Völker gewähren“ und sie zur „Entwicklung ihrer eigenen Anlagen und Kräfte (zu) bringen“. Führung bedeute, „nicht nur im deutschen Interesse, sondern zugleich im Interesse des europäischen Ganzen“ zu handeln.

Das französische Gegenstück zu diesem idealistisch klingenden Entwurf formulierte der Schriftsteller Drieu La Rochelle, der sich im März 1945 tötete, um seiner Verhaftung und Verurteilung als Kollaborateur zu entgehen. In einem „Geheimen Bericht“ hatte er seine Haltung während der Besatzungszeit so begründet: Frankreich sei nur noch eine zweitrangige Macht gewesen, die sich aus Selbstschutz in einen größeren Verband, in Europa, hätte einfügen müssen. In ihm hätte Deutschland die Führungsrolle zugestanden. Nur hätten die Deutschen ihre Aufgabe nicht begriffen, und sein, Drieus, Versuch, ihnen „französischen Verstand“ beizubringen, sei gescheitert. Ohnehin war der NS-Staat mit seinen Rassengesetzen, KZs und späteren Vernichtungsexzessen absolut unberufen, die Einheit Europas herzustellen.

Die EWG, der Vorläufer der heutigen EU, war zunächst das europäische Standbein der Nato. Der unter der NS-Hypothek ächzenden Bundesrepublik bot sie die Möglichkeit, international wieder ins Spiel zu kommen. 1966 legte der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß einen von Schmitt inspirierten „Entwurf für Europa“ vor. Strauß, Jahrgang 1915, ging davon aus, daß die europäischen Völker „nur in der Großraumwirtschaft (…) ihre Zukunft gewinnen und sichern“ könnten. Die Amerikaner, durch den Vietnam-Krieg geschwächt und unter Druck geraten, könnten versucht sein, mit der Sowjetunion eine Übereinkunft über die dauerhafte Teilung Europas und Deutschlands zu treffen.

Strauß’ Planungen gingen über die Ökonomie weit hinaus. Um nicht zur Verhandlungsmasse der Supermächte zu werden, müßten die westeuropäischen Klein- und Mittelstaaten auch eine politische und militärische Einheit bilden einschließlich einer eigenständigen Atomstreitmacht. Dieses (West-)Europa wäre ein gleichberechtigter Partner der USA und zugleich kraftvoller Widerpart der Sowjetunion. Es würde eine große Anziehungskraft auf die osteuropäischen Länder entwickeln und so zum inneren Zerfall des Ostblocks führen. Die Nationalstaaten sollten innerhalb des Verbundes nur noch eine den deutschen Bundesländern vergleichbare Rolle spielen.

Den Brexit kann die EU unter Schmerzen verkraften; ein Frexit brächte sie auf die Intensivstation; ein Dexit wäre ihr sofortiger Tod. Deutschland ist leicht erpreßbar, andererseits schlagen die Fehler, die sich aus seiner Nachgiebigkeit ergeben, auf alle anderen zurück. 

Diese letzte Konsequenz war und ist überzogen, ein Europa der Vaterländer erscheint realistischer, doch bemerkenswert bleibt die strategische Perspektive und machtpolitische Inspiration. Zu einem vergleichbaren Konzept war die politische Klasse nach 1989/90 nicht in der Lage. Ihr mantrahaftes Bekenntnis, man wolle kein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland, richtete sich vordergründig gegen die Angst der anderen. Hintergründig ging es um die eigene Furcht vor der Überforderung als prospektive Zentral- und Führungsmacht in Europa. Aus der Machtversessenheit des Dritten Reiches hatten die deutsche Flakhelfer-Generation und ihre Nachfolger eine Schlußfolgerung gezogen, die der Strauß-Generation fremd war: daß Macht an sich etwas Böses sei und den, der sie ausübe, in Gefahr bringen müsse. Hinter dem deutschen Drängen auf „mehr Europa“ steht keine politische Idee, sondern der Rückzug aus der Verantwortung, die sich aus der natürlichen Stellung des Landes ergibt. Was von Deutschland in den Großraum hineinstrahlt, sind blanke Machtangst und der Wunsch, sich aufzulösen.

Gleichzeitig stellt Deutschland im europäischen Rahmen die einzige unverzichtbare Nation dar. Den Brexit kann die EU unter Schmerzen verkraften; ein Frexit brächte sie auf die Intensivstation; ein Dexit wäre ihr sofortiger Tod. Aus dem Widerspruch zwischen dem tatsächlichen Gewicht und dem fehlenden Machtwillen Deutschlands ergeben sich neue Konflikte. Die Bundesrepublik ist leicht erpreßbar, andererseits schlagen die Fehler, die sich aus ihrer Nachgiebigkeit ergeben, auf alle anderen zurück: so in der Migrationsfrage, so beim Euro.

Der politische Philosoph Panajotis Kondylis (1943–1998) setzte daher seine Hoffnung auf die „politisch überlegene Elite Frankreichs“. Er wünschte sich den französischen Machtwillen mit der deutschen Wirtschaftskraft vereint. „Das Land Richelieus und de Gaulles hätte vermutlich bei ausreichenden materiellen Voraussetzungen Selbstbewußtsein und Geschick genug, die Hegemonie in Europa an sich zu reißen und den Kontinent in der Welt sowohl würdig als auch energisch zu repräsentieren.“

Tatsächlich war das wiedervereinte Deutschland unter französischem Druck bereit gewesen, sein stärkstes Macht­instrument, seine Währung, europäisieren zu lassen. Doch die Franzosen wollten daraus keine europäische Waffe schmieden, ihnen ging es um die endgültige Entwaffnung Deutschlands. Zu dem Zweck wurden in den Währungsverbund auch Länder aufgenommen, die nicht ansatzweise die nötigen Voraussetzungen erfüllten. Die deutschen Politiker waren naiv genug zu glauben, die Währungsmechanik würde das Primat der Politik ersetzen.

Im Ergebnis ist Deutschland als unfreiwilliger Superbürge geschwächt und noch tiefer in die Erpreßbarkeit getrieben worden, ohne daß die anderen Länder und die EU als Ganzes stärker geworden sind. Im Gegenteil, der Währungsraum und die gesamte EU befinden sich in einer Dauerkrise. Kondylis hatte sich über die französischen Führungsqualitäten gründlich geirrt.

Eine andere Alternative, um das von Deutschland hinterlassene Führungsvakuum aufzufüllen, ist nicht in Sicht. Die Leitidee des Italieners Roberto Esposito ist eine typisch südeuropäische. Er fordert wirtschaftliche Maßnahmen mit „präzisem politischen Charakter“, eine „erneuerte Währungspolitik“, eine „gemeinsame Budgetpolitik“ und die Steigerung der Nord-Süd-Transfers. Also genau das, worauf auch Frankreichs Präsident Macron abzielt – und wofür er in Deutschland zum europäischen Messias erhoben wird.

Auf allen Überlegungen scheint damit ein „Umsonst“ und „Zu spät!“ zu lasten. Selbst wenn es gelänge, die europäischen Länder zu einem wirkungsmächtigen Großraum zusammenzuführen, würden sich Zentrifugalkräfte ganz anderer Art regen. Ein gemeinsamer politischer Raum benötigt ein bestimmtes Maß an Kohärenz, die sich aus historischen, kulturellen und ähnlichen Gemeinsamkeiten ergibt. Durch die Zuwanderung wird Europa jedoch zunehmend fragmentiert und tribalisiert, und neue Bruchlinien tun sich auf. Außerdem verliert Europa, das im Westen sukzessive von außereuropäischen Kulturen besiedelt und geprägt wird, seine Substanz und seinen Sinn. Da Brüssel diesen Prozeß eher beschleunigt als verlangsamt, müssen Optionen jenseits der EU in Erwägung gezogen werden.






Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Publizist. 2004 erhielt er den Gerhard-Löwen­thal-Preis für Journalisten. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Bedeutungsverlust des Zentralrats der Juden („In der Defensive“, JF 25/18).

Foto: Unausgefüllte Mitte: Europa zu führen und zu integrieren mit einer souveränen politischen Idee fällt Deutschland natürlicherweise zu. Doch Berlin hinterläßt ein Führungsvakuum – zum Schaden des Ganzen.