© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/19 / 15. Februar 2019

Der Abzug des verwundeten Löwen
Apokalyptische Szenen am Dnjepr: Vor 75 Jahren konnte die zurückweichende Wehrmacht bei Tscherkassy in der Ukraine mit Müh und Not ein zweites Stalingrad verhindern
Oliver Busch

Zu Weihnachten 1943 begann eine der gewaltigsten Offensiven des Zweiten Weltkrieges, die „Strategische Dnjepr-Karpaten-Angriffsoperation“, die bis zum 6. Mai 1944 dauerte. Vier sowjetische Heeresgruppen, die 1., 2., 3. und 4. Ukrainische Front, mit 2,2 Millionen Mann, 28.000 Geschützen, 2.000 Panzern und 2.600 Kampfflugzeugen, waren angetreten, um die Heeresgruppe (HG) Süd unter Generalfeldmarschall Erich von Manstein zu zertrümmern, die westliche Ukraine zu befreien und das deutsche Ostheer an diesem Frontabschnitt auf seine Ausgangsposition vom Juni 1941 zurückzuwerfen.

Dieser gewaltigen Übermacht konnte Manstein wenig entgegensetzen. Während der ersten, binnen drei Wochen abrollenden Aktion, gerichtet gegen den Nordflügel der HG Süd, standen den sieben Armeen und zwei Panzerarmeen der Russen nur die ausgelaugte 8. Armee und die, wie es Karl-Heinz Frieser in der offiziösen Darstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsamts (MGFA) plastisch ausdrückt („Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“, Bd. 8, München 2007), ebenso nur noch aus „Trümmern von Divisionen“ zusammengefügte 4. Panzerarmee der Wehrmacht gegenüber. 

Manstein handelte gegen Durchhaltebefehl Hitlers 

Manstein kämpfte in diesen Wochen aber nicht nur mit deprimierender eigener Unterlegenheit gegen die russische Dampfwalze, sowie mit General Winter, sondern auch mit Stalins treuestem Verbündeten: Adolf Hitler. Der hatte aus dem kaum ein Jahr zurückliegenden Desaster an der Wolga nichts gelernt, verwechselte weiter operative Notwendigkeiten mit strategischen Wunschbildern, verfolgte seine ideenlose Defensivtaktik, stur darauf bedacht, keine eroberten Räume preiszugeben, um sich Sprungbretter für utopische Offensiven im Frühjahr 1944 zu bewahren. 

Folglich weigerte sich Manstein, dem Virtuosen des elastisch-eleganten Bewegungskrieges, unentwegt ins Handwerk pfuschende „Führer“, den bei Kanev den Djnepr berührenden, weit vorspringenden Frontbalkon nahe Tscherkassy zu räumen. Dessen exponierte Lage lud die Sowjets regelrecht ein zum Zangenangriff, der dann am 24. Januar 1944 entlang der Basis des trapezartigen Balkons, zwischen Oratov im Westen und Kirovograd im Osten, prompt erfolgte. Vier Tage später war diese Basis besetzt, der Sack zugeschnürt und fünf, freilich arg dezimierte Heeresdivisionen, die auf Regimentsstärke geschrumpfte 5. SS-Panzerdivision „Wiking“ samt der SS-Brigade „Wallonie“ und die Korpsabteilung B, rund 50.000 Landser und 5.000 russische Hilfswillige, saßen von da ab im „Kessel“ Korsun-Tscherkassy in der Falle. 

Erwartungsgemäß untersagte Hitler ihren Ausbruch, befahl Halten bis zur letzten Patrone, versprach Luftversorgung, avisierte Entsatz. Eine von seinen horrenden Führungsfehlern verschuldete abermalige Katastrophe schien also unvermeidlich. Trotzdem ließ sich ein zweites Stalingrad am Dnjepr in letzter Minute verhindern.

Obwohl es nicht danach aussah, als die schwachen Einheiten des vom unteren Dnjepr-Bogen eilig abgezogenen III. Panzerkorps der 1. Panzerarmee, darunter die SS-Panzerdivision „Leibstandarte Adolf Hitler“, am 1. Februar ihren Entlastungsangriff starteten. Denn ausgerechnet an diesem Tag verwandelte ein Warmlufteinbruch die Landschaft in eine Schlammwüste. Selbst die 80 „Tiger“ und „Panther“ eines von Oberstleutnant Franz Bäke, einem promovierten Zahnarzt und Eichenlaubträger, geführten schweren Panzerregiments, auf dessen unwiderstehlicher Wucht Manstein vertraute, blieben hilflos im Morast stecken. 

Auch bei der „Leibstandarte“ bewegten sich lediglich drei Panzer – nicht im Gefecht, sondern im „Abschleppdienst“. Erst wiederkehrender Frost gestattete am 11. Februar einen zweiten Anlauf, der sich, trotz erstaunlicher Erfolge – allein Bäkes wendige Kolosse vernichteten am 13. binnen Stunden 100 Sowjetpanzer – am 16. an der berüchtigten Höhe 239 bei Lissjanka festfraß, nur acht Kilometer von der Südfront des Kessels entfernt.

Ohne Rücksprache mit dem Führerhauptquartier gab Manstein daraufhin für die Nacht zum 17. Februar die Parole „Freiheit“ aus, erteilte damit eigenmächtig den Befehl zum Ausbruch. Was sich in den nächsten 24 Stunden an apokalyptischen Szenen abspielte, ragt selbst aus der mit solchem Grauen nicht geizenden Chronik des deutsch-sowjetischen Krieges heraus. In den raren Publikationen und den vielen unveröffentlichten Dokumenten im Freiburger Bundesarchiv/ Militärarchiv schlägt sich das reiche Gefühlsspektrum von Verzweiflung, Angst, Entsetzen, Panik nieder, das sich während des Durchbruchs der zeitweilig führerlosen – General Wilhelm Stemmann, „Befehlshaber im Kessel“, war frühmorgens gefallen – Todgeweihten entfaltete. Zu dem die barbarische Kampfweise der Roten Armee erheblich beitrug. Wie gewohnt mißachtete sie das Kriegsrecht, wenn ihre Panzer ein Scheibenschießen auf Panjewagen veranstalteten, die das Rote Kreuz trugen, wenn Rotarmisten, wie ausdrücklich befohlen, Gefangene und zurückgelassene Schwerverwundete gnadenlos massakrierten, wenn ihre Artillerie in dichte Ansammlungen deutscher Soldaten feuerte, die gerade waffenlos die eisigen Fluten eines Flusses durchschwommen und das vermeintlich sichere Ufer erklommen hatten. Völkerrechtswidrige Schlächtereien, die der MGFA-Historiker Frieser mit dem erbärmlichen Hinweis auf zulässige Rache-gelüste der Täter glaubt entschuldigen zu dürfen. Die Stalin von seinen Generalen versprochene „totale Vernichtung“ des Feindes gelang trotzdem nicht, denn 40.000 Verteidiger entkamen dem ihnen zugedachten „Cannae von Korsun“, bei halbwegs moderaten Verlusten von 3.000 Gefallenen, während die das Blut ihrer Muschkoten freigiebig verschwendende Sowjetführung 24.000 Tote zählte.

Das danteske Inferno sollte jedoch das Bild von der „Hölle von Tscherkassy“ im kollektiven Gedächtnis nicht dominieren. Dies konzediert sogar Frieser, wenn er bemerkt, daß sich keineswegs alle Offiziere von Hektik und Panik anstecken ließen. Viele bewiesen Nervenstärke und analysierten kaltblütig die Lage, wie der spätere erste MGFA-Chef, der Seeckt-Biograph Hans Meier-Welcker, der als Ia in der 389. Infanteriedivision diente. Der Oberstleutnant spürte eine kleine Lücke im Einschließungsring auf und erreichte mit vielen Einheiten relativ unbedrängt deutsche Linien.

Rückzugsstrategie nach dem Ideal von Clausewitz

Was Frieser nur nebenher einräumt, war für Generalleutnant Hans Speidel, Generalstabschef der 8. Armee, die zentrale historische Lehre der Kesselschlacht. Er zog sie schon früh, 1950, in einem Vortrag vor der Allgemeinen Schweizer Offiziersgesellschaft. Mit der deutlichen Botschaft, sie bei dem sich anbahnenden Aufbau der Bundeswehr zu beherzigen (publiziert in der Sammlung seiner Reden: „Zeitbetrachtungen“, Mainz 1969). Angesichts der von der Frauenärztin Ursula von der Leyen organisierten radikalen Traditionsentsorgung, die seit langem den fatalen Umbau der bundesdeutschen Armee zu einer McKinsey-gemanagten Wachdienst-Firma flankiert, ist der Wert von Speidels schlachterfahrenen Reflexionen heute schwerlich zu überschätzen.

Inmitten der Schrecken des Krieges, so dozierte der General, seien Menschen vielfach über sich hinausgewachsen „zu Höhen der Tapferkeit, Kameradschaft und Selbstlosigkeit“. Tugenden, ohne die kein Staat zu machen ist, keine Wehrmacht auskommt. Zu Hitlers Unwillen formvollendet, in bester Uniform, habe etwa Oberst Hans-Joachim Fouquet, der bald danach fiel, die bedingungslose Kapitulation heischenden Sowjetparlamentäre empfangen, um ihnen die Ungebrochenheit von Führung und Truppe im Kessel zu demonstrieren. Selbstbewußt und lässig habe jeder Kämpfer die auf ihn niederprasselnden Propagandalügen aus den Lautsprechern des Nationalkomitees Freies Deutschland ignoriert. Nur „ein derart diszipliniertes, ideell geeintes Menschentum“ garantiere den militärischen Erfolg, nur dem verdanke der Ausbruch seinen Ruhm als „Meisterwerk der mittleren und unteren Truppenführung“. 

Ebenso habe darauf die „Unerschütterlichkeit der Nachhuten“ beruht, die ein „lebendiges Beispiel des von Clausewitz geforderten ‘Abzugs des verwundeten Löwen’“ gaben. Solche überzeitlich vorbildliche soldatische Haltung wußte der noch humanistisch gebildete Offizier Hans Speidel, von 1957 bis 1961 Nato-Oberkommandierender der alliierten Landstreitkräfte in Mitteleuropa, im Rückgriff auf Horaz treffend zu würdigen: „Si fractus illabatur orbis/Impravidum ferient ruinae“ („Selbst wenn der Weltenbau zusammenstürzen sollte, treffen dessen Trümmer noch einen Helden“). Eine Weisheit, die der notorische Zivilist Dolf Sternberger, der Politikwissenschaftler, der den „Verfassungspatriotismus“ erfand, 1984, in schon postheroischen Zeiten, zum Gedenken an den 20. Juli 1944 ähnlich formulierte: „Es gibt Augenblicke des Heldentums. Sie zu löschen hieße, Geschichte in einen Sumpf der Belanglosigkeit versinken zu lassen.“