© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/19 / 15. Februar 2019

Der Liberalismus scheitert an sich selbst
Francis Fukuyama über die Krise des Westens angesichts der Renaissance der Identitätspolitik
Michael Dienstbier

Triumphierend rief er 1992 das „Ende der Geschichte“ aus. Nach Scheitern der beiden totalitären Versuchungen des 20. Jahrhunderts – Faschismus und Kommunismus – habe sich die liberale Demokratie als das siegreiche System erwiesen, welche von nun an mit den ihr immanenten Prinzipien von Grundrechten, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft dazu bestimmt sei, den Globus zu beherrschen. 

Doch recht bald zeigte sich, daß dieses Urteil vorschnell gefällt worden ist: Die Konflikte auf dem Balkan, die Anschläge in New York vom 11. September 2001 und die Politik des sich so ganz und gar nicht als „Regionalmacht“ (Barack Obama) sehenden Rußlands verdeutlichten, daß die Welt weiterhin als Pluriversum unterschiedlicher Interessen betrachtet werden mußte und mitnichten als ein globales liberales Utopia. 

Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama distanzierte sich schon zeitnah vom universalen Anspruch seiner These und brach im Jahr 2006 anläßlich des Irak-Krieges von George W. Bush endgültig mit den Neokonservativen, als deren intellektueller Stichwortgeber er bis dato gegolten hatte. In seiner neuen Darstellung „Identity“ stößt er nun zum Grundkonflikt unserer Gegenwart vor, der nicht zuerst im Streben nach ökonomischer Sicherheit, sondern vielmehr im Wunsch nach Respekt und Anerkennung zu verorten sei.

Im Zentrum von Fukuyamas Argumentation steht der Thymos als der nach Anerkennung strebende Teil der menschlichen Psyche. Der Begriff läßt sich nicht eins zu eins ins Deutsche übertragen und schwankt in seinen möglichen Bedeutungen – so Peter Sloterdijk 2006 in „Zorn und Zeit“ – zwischen Empörung, Mut und Zorn. Völlig außen vor könne man das Ökonomische nicht lassen, so Fukuyama; dieses sei aber nicht die Ursache für die wachsende Wut der Völker, sondern lediglich ein den Wunsch nach Anerkennung verstärkendes Element. 

Nur so ließen sich zwei wegweisende Entscheidungen der vergangenen Jahre verstehen: die Wahl Trumps in den USA und der Brexit. Trump verdanke seinen Wahlsieg den Stimmen von weißen Männern ohne höhere Bildungsabschlüsse. Diese wählten ihn nicht nur, weil er ihnen die Rückkehr ihrer Jobs in der Kohle- und Stahlindustrie versprach. Vielmehr würdigte er auch ihren Lebensstil und ihre Bedeutung bei der Erfolgsgeschichte der USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Hillary Clinton hingegen sagte knapp zwei Monate vor der Wahl, die Hälfte von Trumps Wählern gehöre in einen „basket of deplorables“ – einen Korb der Erbärmlichen. Der in Europa mitleidig belächelte Slogan „Make America great again“ adressierte geschickt die Sehnsucht nach Anerkennung der von den liberal-globalistischen Eliten verachteten weißen Arbeiterschaft.

Von Amerika ausgehend, greift seit geraumer Zeit das Phänomen der Identitätspolitik auf den Rest der westlichen Welt über. Damit gemeint ist die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in zahlreiche Partikulargruppen, die für ihre spezifischen Interessen und Bedürfnisse Lobbyarbeit betreiben. Fukuyama analysiert, daß sich in den vergangenen Jahren die politische Linke der Vertretung dieser Einzelinteressen – LGBT, Black Lives Matter etc. – angenommen hat, dafür aber ihre alte Kernklientel der weißen Arbeiter aus den Augen verlor. 

Fukuyama sieht das Heil nur in der Vereinheitlichung

Im daraus resultierenden sich auflösenden nationalen Gemeinschaftsgefühl sieht der Autor die entscheidende Ursache für die weltweite Krise des Liberalismus, dem er sich weiterhin verpflichtet fühlt: „This is part of a larger story about the fate of modern liberalism, in which the principle of universal and equal recognition has mutated into the special recognition of particular groups“, beklagt Fukuyama die „Mutation“ einer allgemeinverbindlichen Interessenvertretung zur Lobbyarbeit von Minderheiten jedweder Art.

Fukuyamas fundierter Befund läßt sich problemlos auf Europa und Deutschland übertragen. Unmittelbar nach Beginn der Pegida-Demonstrationen 2014 wurden die Spaziergänger höchstamtlich als rechtes Pack und Menschen mit „Haß in ihren Herzen“ beschimpft – Merkels Version von Hillarys „Korb der Erbärmlichen“. Auch die Gelbwesten in Frankreich passen in dieses Schema, war die Erhöhung der Benzinpreise doch nur der Auslöser für den wütenden Protest gegen einen abgehoben agierenden Präsidenten, der immer wieder einfache Bürger arrogant maßregelte und sich mit schwarzen, halbnackten Straftätern in Triumphpose ablichten ließ. Auffällig sind die Lösungsvorschläge, die Fukuyama den Europäern zur Überwindung der gegenwärtigen Identitätskrise im abschließenden Kapitel ins Stammbuch schreibt. Am besten sei eine gemeinsame europäische Staatsbürgerschaft, was aber kurz- und mittelfristig nicht durchzusetzen sei. Daher sollten alle Länder Europas das Abstammungsprinzip zugunsten des Geburtsortsprinzips abschaffen und eine nicht auf ethnischen Kategorien basierende Leitkultur einführen. Das läuft auf einen gesamteuropäischen Verfassungspatriotismus hinaus, der zwangsläufig nationale und regionale Traditionen ignorieren muß. 

So sehr Fukuyamas Analyse überzeugt, so sehr zeigt er sich in seinen Lösungsvorschlägen doch als typischer Vertreter einer globalistisch denkenden Elite, die auf Vereinheitlichung setzt. Dennoch bleibt sein Buch aufgrund der analytischen Tiefenschärfe lesenswert.

Francis Fukuyama: Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2019, gebunden, 240 Seiten, 22 Euro