© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/19 / 15. Februar 2019

Nicht links liegenlassen
Verschwendung: Lebensmittelretter bedienen sich neuer Aktionsformen
Claus-M. Wolfschlag

Laut einer vergangenes Jahr veröffentlichten Studie der Umweltstiftung WWF landen in Deutschland jährlich rund 18,4 Millionen Tonnen an Nahrung in der Mülltonne. Verderben Lebensmittel in ärmeren Ländern vor allem im Prozeß der Ernte, beim Transport und der Lagerung, so liege in den reicheren Ländern das Problem beim Endverbraucher. Knapp 40 Prozent des Mülls entstünden bei Privathaushalten. Hinzu kämen Abfälle in der Gastronomie. Auch der Blick ins westeuropäische Ausland und in die USA zeige, daß Privathaushalte etwa 20 Prozent ihrer Lebensmittel ungenutzt in den Müll werfen.

Appelle zur Müllvermeidung hätten allerdings bereits in der Vergangenheit wenig Wirkung gezeigt. Das dürfte damit zu tun haben, daß Nahrung in den Supermärkten jederzeit und vergleichsweise günstig zu holen ist. Entfremdung von der Natur und dem landwirtschaftlichen Produktionsprozeß ist die Folge.

Umweltaktivisten wollen dieser verschwenderischen Lebensweise dennoch etwas entgegensetzen und betätigen sich als „Lebensmittelretter“. Manche geben auf Internetplattformen wie foodsharing.de überschüssige Lebensmittel an Interessierte ab. 

Andere machen daraus ein Geschäftsmodell. Das Brötchen vom Vortag zum halben Preis gibt es schon lange in manchen Bäckereien. Geschäfte in Potsdam nutzen nun die Handy-App „Too Good to Go“, um nicht mehr ganz frische Lebensmittel günstiger abzugeben. Die Plattform sirplus.de bietet ihre Waren online an und hat in Berlin zwei „Rettermärkte“ in Einkaufsstraßen eröffnet, die fehlerhafte oder abgelaufene Lebensmittel günstig verkaufen.

Die Niederländer Selma Seddik, Freke van Nimwegen und Bart Roetert betreiben drei Restaurants, in denen Speisen aus Produkten angeboten werden, die ansonsten im Müll gelandet wären: unverkauftes Obst und Gemüse, Milchprodukte nahe dem Mindeshaltbarkeitsdatum. Das gleiche Prinzip verfolgt der Berliner Gasthaus-Verein „Restlos Glücklich“. Die Kölner Juristin Nicole Klaski sammelt mit ihrem Team nach Absprache mit Bio-Landwirten auf deren Äckern nach liegen gebliebenern Ernteresten. Aus dem optischen Rahmen gefallenes Gemüse sowie abgelaufene, aber noch genießbare Supermarktware verkauft sie in ihrem Laden „The Good Food“. Auffallend ist, daß das 15köpfige Team zu zwei Dritteln aus Frauen besteht.

Staatliche Institutionen bemühen sich ebenfalls, der Lebensmittelverschwendung entgegenzuwirken. Das von der Christdemokratin Julia Klöckner geführte Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft verbreitet Broschüren zur geschickten Aufbewahrung von Speisen und Resteverwertung. Unter den Bundesländern ist laut WWF-Studie Sachsen ein Vorreiter. Auch die Initiative „Lebensmittel sind wertvoll“ des christlich-sozialen Bildungswerkes wird dabei positiv hervorgehoben. Sie versucht mit Aktionen bei Kindern und Jugendlichen das Bewußtsein für den Wert von Lebensmitteln zu stärken. 

Milchmädchenrechnungen helfen niemanden

Problematisch an der Thematik ist, daß immer wieder wenig zielführende Argumente auftauchen. Das gängigste und auch in der etablierten Presse verbreitetste Argument ist, die hiesige Überproduktion und Verschwendung von Lebensmitteln mit dem Hunger in manchen Ländern der Dritten Welt in Verbindung zu bringen. Beispielsweise wird ein Spiegel-Artikel zum Thema folgendermaßen eingeleitet: „Von den sieben Milliarden Menschen auf der Welt hungert täglich rund eine Milliarde. Gleichzeitig würde die globale Lebensmittelproduktion theoretisch ausreichen, um nicht nur sieben, sondern neun, zehn oder gar zwölf Milliarden Menschen satt zu machen.“ Derlei Milchmädchenrechnungen erwähnen natürlich nicht, wie zum Beispiel plötzlich anfallende Überschüsse an europäischer Butter oder an nicht verbrauchtem Schweinegeschnetzeltem zeitnah nach Mali oder in den Südsudan transportiert werden sollen, und dies noch möglichst ohne nennenswerten Kohlenstoffdioxid-Ausstoß. Und was die Menschen dort dann mit einem Butterberg oder Milchsee anfangen sollen, wäre das nächste Problem. Zum Erzeugen von Schuldgefühlen ist solche Phraseologie indes immer gut.

Dabei sind Müllvermeidung, Respekt der heimischen Natur und ihrer Bewirtschafter sowie die Achtung vor Lebensmitteln durchaus vernünftige und konservative Anliegen. Nachhaltigkeit und Sparsamkeit schonen unsere Umwelt. Verbrauchen wir weniger Lebensmittel, müssen weniger Tiere ihr Leben unter beengten und kaum artgerechten Verhältnissen verbringen. Kühe dürfen wieder weniger Milchleistung erbringen. Weniger Düngemittel geraten in unsere Böden. Energie für sinnlose Warentransporte und -abtransporte kann eingespart werden. Arbeitsleistung und Ressourcen können sinnvoller eingesetzt werden.