© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/19 / 22. Februar 2019

Die Angst vor der Meinung
Großbritannien: Sorge um ausufernde Verfolgung der „Haßkriminalität“ / Selbst Politiker auf Anklagebank
Michael Link

Im Oktober 2016 forcierte Premierministerin Theresa May den Kampf: „Ich bin entschlossen, Großbritannien zu einem Ort zu machen, an dem alle unsere Gemeinschaften gedeihen können und alle Menschen – unabhängig von ihrem Hintergrund – so weit gehen können, wie ihre Talente sie bringen. Dies bedeute, so die Konservative weiter, „kränkende und beschämende Haßverbrechen auszumerzen“. Es sei „völlig inakzeptabel“, daß Menschen aufgrund ihrer Nationalität, ihrer ethnischen Herkunft oder ihrer Hautfarbe „mißhandelt oder angegriffen“ würden. Großbritannien habe zwar einen der „stärksten gesetzlichen Rahmen der Welt, der die Gemeinden weiterhin vor Feindseligkeit, Gewalt, Homophobie und Bigotterie schützt, aber wir müssen noch mehr tun“.

Dank der Arbeit der Polizei steigt die Zahl der Vorfälle

Nach Angaben einer „Handlungsanleitung bei Haßverbrechen“ für Polizeibeamte muß das Opfer nicht einmal der Ansicht sein, daß der Täter in Feindseligkeit oder mit Vorurteilen gehandelt habe. Auch sollten die Polizeibeamten diese „Wahrnehmung nicht direkt in Frage stellen“. Mit anderen Worten, was einen „Haßvorfall“ ausmacht, ist völlig subjektiv, darf aber nicht offenkundig bezweifelt werden, sobald der Vorwurf erhoben wurde.

Etwas mehr als zwei Jahre später  schlägt Anne Marie Waters, Gründerin und Vorsitzende der rechtskonservativen  Partei „For Britain“, Alarm. „Unsere Fähigkeit, in Großbritannien unsere Meinung zu äußern, wurde in den letzten Jahrzehnten radikal untergraben.“ Sei es durch „Haßrede“-Gesetze oder durch linke Aktivisten, die die Debatte beenden. Das „Rückgrat der Demokratie“ sei „ernsthaft und unmittelbar bedroht“, so die 41jährige. Wenn Großbritannien glaube, daß Redefreiheit weiterhin oberste Priorität habe, sei es inakzeptabel, daß eine Person allein aufgrund ihrer politischen Ansichten ihren Arbeitsplatz verliere. Aktuell, so Waters, seien in London rund 900 Polizeibeamte darauf spezialisiert, „Haßdelikte“ im Internet zu entdecken und diese zu ahnden. 

Laut dem im Juli 2016 aufgelegten „Haßverbrechen-Aktionsplan 2016–2020) handelt es sich um Straftaten, die aus „Feindseligkeit oder Vorurteilen aufgrund der Rasse (einschließlich Hautfarbe, Nationalität, ethnischer Herkunft und nationaler Herkunft), Religion, Behinderung, sexueller Orientierung und Transgender-Identität motiviert“ sind.Und deren Zahl, so der jüngste Report des Innenministeriums, ist „vermutlich“ aufgrund von „Verbesserungen bei der Verbrechenserfassung durch die Polizei“ seit 2016 um 17 Prozent gestiegen. Im vergangenen Jahr lag die Zahl der „Haßverbrechen“ in England und Wales mit mehr als 83.000 sogar auf einem Rekordhoch.

Und das, obwohl bereits 2016 mit der Einrichtung eines Fonds – des Hate Crime Community Projects Funds – eine landesweite Maßnahme gegen „Haßverbrechen“ installiert worden war. Dieser Fonds des britischen Innenministeriums stellt Organisationen in England und Wales finanzielle Mittel in Höhe von 2,4 Millionen Pfund zur Bekämpfung von Haßkriminalität bereit – mit „innovativen Lösungen gegen Haß und Vorurteile“. Damit wurden in den vergangenen beiden Jahren 16 Projekte finanziert.

Diese umfassen Arbeiten mit jungen Transgender-Personen, welche online auf diskriminierende oder beleidigende Inhalte stoßen, sowie Maßnahmen, um das Verhalten und die Einstellung junger Menschen, die in Manchester Haßverbrechen für schuldig befunden wurden, zu ändern. Schließlich werden auch Projekte unterstützt, die unter der Verwendung der britischen Gebärdensprache das Bewußtsein für „Haßkriminalität“ bei Gehörlosen wecken und stärken sollen. 

Eines der Projekte mit dem Titel „EqualiTeach“ zielt darauf ab, eine Sensibilisierung von Kindern und Lehrern aus sieben Schulen in Tower Hamlets speziell zu „Haßverbrechen“ gegen Muslime zu entwickeln. Schüler sollen dadurch auch ermutigt werden, Haßverbrechen wie feindselige Posts im Internet anzuzeigen.

„Das ist nicht mehr das Land, das ich kenne“ 

Wie schnell ein Bürger auch nur bei unverfänglichen und einfachen Aktivitäten in den sozialen Medien ins Visier der Polizei kommen kann, zeigt der Fall eines Hafenarbeiters aus Humberside im Norden von England. Harry Miller twitterte von anderen Menschen verfaßte Tweets zum Thema Transgender. Miller wurde 34 Minuten lang verhört, um seine Gedanken zu Transgender-Fragen zu „überprüfen“.

 Ein Polizeibeamter sagte, der Re-tweet eines Limericks (Kurzgedicht) über Transgender-Personen hätte das Potential, andere Menschen zu beleidigen. Inhalt dieses Limericks war eine wohl nicht ganz ernst gemeinte Beschreibung für Transgender, wonach das „Gehirn einer Frau manchmal im Körper eines Mannes“ wachse.

Schließlich stellte die Polizei fest: Miller’s Retweet könne zwar nicht als Haßverbrechen im engeren Sinne gewertet werden, dieser wurde jedoch als sogenannter „Haßvorfall“ erfaßt. Als Miller dagegen protestierte, daß er den beleidigenden Reim nicht einmal selbst geschrieben hatte, erwiderte der Offizier, daß Miller „ihn mochte und auch im In-ternet weiterverbreitete“. Der Polizeibeamte vertrat die Ansicht, das Verhör solle auf die Diskussion über Transgender-Fragen „abschreckend“ wirken. 

Nach zahlreichen Protesten gegen das Verhör twitterte Keith Hunter, Polizeioffizier aus Humberside: „Dies war eine angemessene Reaktion der Polizei.“ Miller dagegen betonte gegenüber der Tageszeitung Daily Telegraph, daß er mit Botschaften von Leuten geradezu überschwemmt wurde, die „Angst“ vor polizeilichen Maßnahmen zum Ausdruck brachten, weil sie ihre Meinung zu diesem Thema geäußert hätten.

Neben diesem Fall hat die Polizei allerdings bereits zahlreiche weitere sehr unterschiedliche „Haßvorfälle“ registriert: darunter den Fall eines Mannes, dessen Hund sich auf dem Rasen eines Nachbarn übergab, das Engagement eines Mannes für den Brexit sowie eine Rede der ehemaligen Tory-Innenministerin Amber Rudd über das Thema Einwanderung. 

Die konservative Politikerin hatte im Januar 2017 in einer Rede erklärt, sie wolle es britischen Unternehmen erschweren, Migranten zu beschäftigen, und sicherstellen, daß ausländische Arbeitnehmer „keine Arbeit annehmen, die britische Arbeitnehmer tun könnten“.

Auch das Hinterherpfeifen bei Frauen und mehr oder weniger platte Anmachsprüche könnten in Zukunft als „hate crime“ angesehen und ähnlich wie Rassismus und Schwulenfeindlichkeit eingestuft werden. Hatte doch das Petitionskomitee des Parlaments im Januar beschlossen, daß das bisherige Gesetz nicht ausreichend und eine Gesetzesänderung angemessen sei.

Kritiker wie Anne Marie Waters sehen in den aktuellen Entwicklungen im Kampf gegen „Haßverbrechen“ in ihrem Land weniger einen Kampf gegen Kriminalität, sondern vielmehr einen Kampf gegen die freie Meinungsäußerung. „Das ist nicht jenes Großbritannien, das ich kenne und auf das ich stolz bin“, beklagte die fünffache Mutter in einer jüngst veröffentlichten Videobotschaft.