© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/19 / 22. Februar 2019

„Deutschland braucht eine anhaltende Willkommenskultur“
Arbeitsmarkt: Bertelsmann-Studie verlangt erneut Masseneinwanderung aus Nicht-EU-Staaten / Es fehle ein „Erwerbspersonenpotential“ von jährlich 260.000
Fabian Schmidt-Ahmad

Das Schöne am Prophetendasein ist, daß Aussagen in der Gegenwart kaum geprüft werden können und in der Zukunft schon vergessen sind. Wer erinnert sich noch an die Bertelsmann-Studie „Zuwanderungsbedarf aus Drittstaaten in Deutschland bis 2050“, die verkündete: „Erst bei einer Nettozuwanderung, die im langjährigen Mittel 533.000 Personen umfaßt, würde das Erwerbspersonenpotential in etwa auf dem heutigen Stand bleiben – unter Berücksichtigung normal steigender Erwerbsquoten.“

In deren Erscheinungsjahr 2015 sind 2,14 Millionen Zuwanderer nach Deutschland gekommen. 998.000 zogen fort, was eine Nettoeinwanderung von 1,14 Millionen ergab. 55 Prozent der Zugewanderten waren Nicht-EU-Bürger. Die Mehrheit von ihnen geht aber keiner oder einer Erwerbstätigkeit mit bescheidener Wertschöpfung nach.

Konkrete Ergebnisse hängen stark von den Annahmen ab

Eigentlich folgen daraus zwei Dinge. Entweder wir brauchen für das geforderte „Erwerbspersonenpotential“ eine jährliche Nettozuwanderung in Millionenhöhe, was sich auch die 1977 gegründete milliardenschwere Stiftung des Medienunternehmers Reinhard Mohn nicht getraut hat zu fordern. Oder die Studie hat schlicht gravierende Mängel. Die Bertelsmann-Forscher halten sich mit solchen Überlegungen nicht auf und legen lieber eine Folgestudie über „Zuwanderung und Digitalisierung“ nach. Hier versuchen die Autoren Johann Fuchs, Alexander Kubis und Lutz Schneider den Umbruch abzuschätzen, den die Digitalisierung bis 2060 für die deutsche Wirtschaft bedeuten wird. Wie sie das schaffen? Durch glückliches Raten: „Ein Großteil des Zusammenhangs von demographischer Alterung einerseits und Wachstum und Beschäftigung andererseits ist wissenschaftlich nicht vollständig geklärt. Nicht zuletzt hängen die konkreten Ergebnisse entsprechender Studien stark von den Annahmen ab.“

Willkommen bei den Kaffeesatzlesern, die in ihrem Szenario für ein „minimales Erwerbspersonenpotential“ nun von einem benötigten „Wanderungssaldo von jährlich 260.000 Ausländern“ bis zum Jahr 2035 ausgehen. Das ist zwar die Hälfte der vor vier Jahren geforderten Zahl, aber immer noch reichlich Masse und Anlaß genug, die wenig überraschende Litanei anzustimmen: „Die Attraktivität eines Landes für qualifizierte Einwanderer ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Dafür braucht Deutschland eine anhaltende Willkommenskultur im Sinne einer gesellschaftlichen Offenheit für Einwanderer und attraktive Integrationsangebote für sie und ihre Angehörigen“, schreiben Bertelsmann-Vorstand Jörg Dräger (unter Ole von Beust Hamburger Wissenschaftssenator) und Stiftungsdirektor Ulrich Kober im Vorwort der Studie.

Daß 2016 135.000 Deutsche ihre Heimat verließen, scheint die Bertelsmänner weniger zu stören. Allerdings wanderten 2016 auch 635.000 und 2017 etwa 500.000 Ausländer ein, darunter 206.000, die angaben, Syrer zu sein. Hinzu kamen 133.000 Bürger sehr unterschiedlicher Qualifikation aus Rumänen, die alleine schon die deutschen Verluste an „Erwerbspotential“ locker numerisch ausgeglichen haben. Aber warum soll nun die Zuwanderung – zusätzlich zur Asyl-Schiene – vor allem aus Drittstaaten kommen? Die drei Studienautoren gingen einfach „davon aus, daß die EU-Einwanderung in den kommenden Jahren und Dekaden wieder sinken wird“.

Studie „Zuwanderung und Digitalisierung – Wieviel Migration aus Drittstaaten benötigt der deutsche Arbeitsmarkt künftig?“:  bertelsmann-stiftung.de

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