© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/19 / 22. Februar 2019

Pankraz,
Mona Sarkis und die Krise des Islam

Es passiert gar nicht so selten: Jemand fühlt sich von jemandem bedroht und kämpft mit buchstäblich allen Mitteln gegen die Gefahr, die von ihm ausgeht – und dann schlägt das Schicksal eines Tages tatsächlich vernichtend zu, doch der Schlag kommt nicht von dem ins Auge Gefaßten und bis aufs Messer Bekämpften, sondern stammt aus einer ganz anderen Richtung, die der Bedrohte bis dahin gar nicht wahrgenommen, geschweige denn sich gegen sie abgesichert hatte. Die Psychologie hält dafür einen Begriff bereit: Betriebsblindheit. Man könnte auch sagen: Dummheit aus Überempfindlichkeit.

Jetzt scheint kein geringerer als der Islam in toto in die Fangstricke der Betriebsblindheit zu geraten. Er bekämpft, wie wir wissen, mit allen Mitteln die „Ungläubigen“, also vor allem die sogenannten Ketzer, die sich mit innerer Leidenschaft und diskursiven Reden von den Lehren Allahs, wie sie im Koran offenbart werden, abwenden. Nun aber müssen die Mullahs und Schriftgelehrten registrieren, daß nicht ketzerische Glaubensstreiter die eigentlichen Feinde Allahs sind,  sondern die „Gleichgültigen“, denen der Koran nur noch als langweilig und völlig überfüssig erscheint.

Mona Sarkis heißt der neue Hauptfeind, den man allerdings höchst ungern als solchen ins Visier nehmen mag, denn sie ist erstens kein Mann und zweitens nicht einmal eine Theologin, sondern eine – neben Arabisch auch fließend Französisch und Englisch sprechende – Linguistin, die überdies fleißig die  Golfstaaten bereist und dort alle möglichen Einheimischen interviewt, besonders junge Leute, mit denen sie sich in regionalen Dialekten verständigen muß. Denn Hocharabisch, so erfahren wir, spricht in den Emiraten kaum noch einer, die Sprache des Korans sei dort eine aussterbende Mundart.


Nicht einmal als „Lingua franca“ sei das Hocharabisch nach Auskunft von Frau Sarkis noch einsatzfähig  wie einst das Lateinische im christlichen Mittelalter, also als Verständigungsmittel über Dialekt- und Sprachgrenzen hinweg für anspruchsvollere Thematiken. Hier habe das Englische dem Hocharabischen im ganzen Nahen und Mittleren Osten die Führung geraubt. Gerade die für das Fortkommen eines modernen Gemeinwesens so wichtige, weil gut ausgebildete Mittelschicht benutze bei Fachgesprächen nur noch das Englische.

Das Hocharabische, schrieb Sarkis kürzlich in der Neuen Zürcher Zeitung, werde in der Region zwischen Syrien und Oman bei faktisch allen Bevölkerungsschichten immer unbeliebter. Gewiß, man respektiere es pro forma als farbenreiche, im Grundduktus hochpoetische „Kultursprache“, und es sei schließlich die Sprache des Korans. Doch als Kommunikationsmittel für den Alltag sei diese Sprache nur noch lästig und hinderlich. Vor allem Schulkinder tun sich schwer damit, sehen in ihr ein bloßes Mittel der Lehrer, sie, die Schüler, von interessanten Sachen abzuhalten.

Hinzu kommt das wüste Treiben des sogenannten „Islamischen Staates“, der in Nordsyrien und im Nordirak bekanntlich ein grausames Terrorregime etabliert hat und auf dessen Fahnen auch die „Rettung“ der hoch-arabischen Sprache, der „einzig möglichen Sprache des Korans“, steht. Was ist nun, fragen sich selbst ebenfalls fundamentalistisch gesinnte und sorgfältig hocharabisch sprechende Salafisten in Saudi-Arabien, müssen wir alle blindwütige „Dschiadisten“ werden, um unsere Hochsprache rein zu halten? Kann eine Sprache denn von sich aus grausam sein? Müssen wir um des Friedens willen nur noch Dialekt sprechen?

Wobei daran zu erinnern wäre, daß es Dialekte gibt, die von Hochsprachlern ohne weiteres durchschaut und erlernt werden können, und Dialekte, die sogar sprachgewandteste Zeitgenossen in Ratlosigkeit stürzen. Nach Auskunft verläßlicher Linguisten gehören die arabischen Dialekte, die im Nahen Osten und an den Küsten der Arabischen Halbinsel gesprochen werden, ganz überwiegend zur zweiten Klasse. Die Differenz etwa zwischen Hocharabisch und dem arabischen Dialekt, der in Katar gesprochen wird, sei mindestens so groß wie der zwischen Hochdeutsch und Schwyzerdütsch.


Aber wie gesagt, die mit Urgewalt heranrauschende Existenzkrise des Hocharabischen rührt keineswegs nur aus der Macht der Dialekte, und auch die weltweite Dominanz des Englischen sowohl als Wissenschaftssprache als auch als Touristensprache würden ihr weniger zusetzen, gäbe es nicht einen dritten Faktor, der hier im Spiel ist und der dem Hocharabischen sehr viel mehr Sorgen bereitet als etwa dem Chinesischen oder den europäischen Hochsprachen. 

Pankraz meint den Umstand, daß das Hocharabische von seinen privilegierten Sprechern und Verwaltern allzu früh und allzu lange als (Ur-)Sprache Gottes hingestellt und gehütet wurde. Es war angeblich die seit Ewigkeit existierende Sprache Allahs, jeder ihrer Bestandteile – bis in die kleinsten grammatikalischen Regelungen hinein – war umweht von einer Aura des Heiligen, von Menschenhand Unantastbaren. Und das  meinte auch: Jedem ihrer Wörter eignete außer Wahrheit  und Gerechtigkeit auch Schönheit, sie war die Sprache der Dichter und Künstler, die „Kunstsprache schlechthin“, wie Mona Sarkis schreibt.

Und genau diese von ihren Apologeten mit Klauen und Zähnen verteidigte, angeblich eingeborene Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit droht ihr heute den Hals zu brechen, machte sie anpassungsunfähig, lieferte sie ungeschützt grobschlächtigen Dialekten aus. Denn Sprachen predigen nun mal nicht, sondern sind von Natur aus schlichte Kommunikationsinstrumente. Ihre Haupttugend besteht in vielfältigster Einsatzfähigkeit und geradezu hemmungsloser Anpassungsfähigkeit. 

Die hoch achtbaren Sprachgelehrten an der ehrwürdigen al-Azhar-Universität in Kairo sollten das bedenken. Sonst könnte es passieren, daß sie eines Tages bei den grausamen Dschihadisten des Islamischen Staates in der Wüste landen.