© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/19 / 22. Februar 2019

Von Grenzen und Schuldgefühlen
Tagung im Polnischen Institut Berlin: Wissenschaftler, Politiker und Schriftsteller diskutierten über nationale Identität in Europa
Harald Melzer

Was ist eine europäische Identität, was ist nationale Identität in Europa? Einen Einblick in die Gedankenwelt europäischer Gelehrter gewährte das Polnische Institut Berlin, das zusammen mit dem Instytut Zachodni, einem in Posen ansässigen Zentrum der Polnischen Westforschung, zur Podiumsdiskussion unter dem Thema „Nationale Identität in Europa“ geladen hatte. 

Zwischen Friedrichstraße und Hackeschem Markt in der historischen Mitte Berlins gelegen, trafen sich in der vergangenen Woche Gelehrte, Schriftsteller und Politiker aus England, Belgien, Deutschland und Polen zum Gedankenaustausch. In drei Diskussionsrunden näherten sie sich den Fragen nach der Nation und deren Bedeutung im überregionalen Staatenbund. Als Magdalena Bainczyk vom Instytut Zachodni die Frage aufwirft, was aus der EU nach dem Brexit wird, herrscht bei den Diskussionsteilnehmern Einigkeit darüber, daß Identität nationales Erbe bedeute. Kultur sei die westliche Identität: Musik, Bilder, Architektur und Literatur. Frank Furedi, ein gebürtiger Ungar, der nach Kanada emigrierte und heute an der Kent-Universität lehrt, bekennt sich als Brexit-Befürworter, wünscht sich weniger EU-Imperialismus und daß die Europäische Union föderalistischer werde. Sie sei als Utopie mit verschwindenden Grenzen gedacht worden, aber durch die Vorkommnisse im Jahr 2015 müsse man an Grenzverteidigung wieder denken. Der Philosoph Jacques Dewitte formulierte: „Wir müssen Grenzen positiv entdecken und uns auch selbst Grenzen setzen.“

In der anschließenden Diskussion mit dem Publikum erläutert die Schriftstellerin Monika Maron, die sich bereits in der Vergangenheit wiederholt kritisch zum Islam geäußert hatte, daß ein Einwanderungsland ein positives Identifikationsangebot machen müsse. Man könne nicht Integration erwarten, wenn man nur sage: „Wir sind das gemeinste und schäbigste Volk der Welt.“ Eine Aussage, die Dewitte unterstützt: „In Sachen Aufarbeitung und Selbstkritik sind die Deutschen zu weit gegangen.“

Grünen-Abgeordneter verliert die Beherrschung 

Bei der folgenden Runde geht es um die polnische Identität vor einem europäischen Hintergrund. Der polnische Jurist Andrej Bryk erklärt, daß Polen sich die Freiheit vom Sozialismus selbst erkämpft und deshalb ein besonderes Verhältnis zur EU und der Kommission habe. Man scheue den Konflikt nicht, weil man sich seiner Geschichte bewußt sei. Der Althistoriker David Engels bemerkt, daß er sich als gebürtiger Belgier, der in Aachen studiert und in Brüssel gelehrt habe, in Warschau wohler fühle als in Brüssel. Ganz Westeuropa sei von Schuldgefühlen und Unkenntnis geprägt. So stelle das Haus der europäischen Geschichte in Brüssel die Geschichte Europas vor der EU als Katastophe dar und die EU als die Erlösung. Furedi ergänzt, daß früher britische Schüler und Studenten patiotisch und stolz gewesen seien, heute würde ein Geschichtsbild voller Scham vermittelt. Er hoffe, daß die osteuropäischen Staaten dem ein positives europäisches Geschichtsbild entgegensetzen und sich dies auf ganz Europa auswirke.

Während des zweiten Panels hat auch Manuel Sarrazin die Räume betreten. Er wird der dritten und letzten Runde Feuer verleihen. Herrschte vorher überwiegend Einigkeit über zuviel Europa und zuwenig Bildung, so sucht der Bundestagsabgeordnete der Grünen die Konfrontation. Sarrazin erklärt, Europa sei durch Ausbeutung und Kolonialismus entstanden und finanziert worden, und er führt aus, daß dies durch den Krieg, „den wir Deutschen ausgelöst haben, beendet wurde“. Unter Ausblendung ganzer Jahrhunderte erklärt er Izabela Kloc von der polnischen nationalkonservativen PiS und dem Auditorium noch, daß aufgrund der Tataren der Islam zu Polen gehöre.

Bei einer Nachfrage aus dem Publikum, daß die EU Ungarn ungerechtfertigt Autoritarismus vorwerfe, verliert Sarrazin die Beherrschung und brüllt den älteren Mann nieder. Wo er das her habe, das seien immer dieselben rechten Internetseiten, die dies behaupten würden. Er habe das noch nie getan. Während seine Mitarbeiter applaudieren, reagiert das Publikum auf den Ausraster verwundert. Und Manuel Sarrazin verläßt kurz nach seinem eruptiven Ausbruch die Veranstaltung, da er einen anderen Termin habe.