© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/19 / 22. Februar 2019

Endlich wieder auf festem Boden stehen
Vor hundert Jahren erarbeitete die Weimarer Nationalversammlung die neue Reichsverfassung / Gegenwind durch den Versailler Vertrag
Karlheinz Weißmann

Meine Damen und Herren, die Reichsregierung begrüßt durch mich die Verfassunggebende Versammlung der deutschen Nation. Besonders herzlich begrüße ich die Frauen, die zum erstenmal gleichberechtigt im Reichsparlament erscheinen. Die provisorische Regierung verdankt ihr Mandat der Revolution; sie wird es in die Hände der Nationalversammlung zurücklegen.“ Mit diesen Worten eröffnete Friedrich Ebert am 6. Februar 1919 die in Weimar zusammengetretene Nationalversammlung. Entscheidend war der Hinweis auf die Revolution – den Sturz der Monarchie, die Ausrufung der Republik – und die Tatsache, daß die provisorische Regierung – der „Rat der Volksbeauftragten“ – bis dahin gleichermaßen exekutive und legislative Befugnisse ausgeübt hatte, sich jetzt aber der Konstituante als Repräsentantin des Volkes unterstellte.

Dieser Akt war so wenig selbstverständlich wie das Zusammentreten der Nationalversammlung überhaupt. Denn der Kollaps des alten Systems hatte ganz im Zeichen der Forderung gestanden, aus Deutschland eine Räterepublik zu machen. Als „Soldaten-“ und dann als „Arbeiterräte“ wurden ad hoc gebildete Gremien bezeichnet, die seit dem November 1918 vielerorts die Macht übernommen hatten. Sie maßten sich alle möglichen Befugnisse an, unter kommunistischem Einfluß bis zu dem Punkt, daß der Rat – russisch „Sowjet“ – nichts anderes tun sollte, als die „Diktatur des Proletariats“ in die Tat umzusetzen. 

Wenn es dazu nicht kam, hatte das zum einen mit der infolge der Demobilisierung rasch schwindenden Bedeutung der Soldatenräte zu tun, aber vor allem mit dem Einfluß der gemäßigten oder Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) auf die Arbeiterräte. Sie duldeten zwar, daß sich der im Dezember zusammengetretene Reichskongreß der Arbeiter- und Soldatenräte als eigentlicher Repräsentant des Souveräns bezeichnete, sorgten aber gleichzeitig dafür, daß dessen Handlungsspielraum beschränkt blieb und faktisch die von MSPD und der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) gestellte Regierung die politische Kontrolle behielt. 

Diese hatte mit der Bezeichnung „Rat der Volksbeauftragten“ eine Konzession an den neuen Zeitgeist gemacht, doch gleichzeitig klargestellt, daß sie nicht daran dachte, ohne Legitimation durch das Volk, die Gewalt auf Dauer an sich zu ziehen. Bereits in einem Aufruf vom 12. November 1918 ließ Ebert als Vorsitzender des Rates der Volksbeauftragten festhalten, daß eine neue Verfassung durch eine – von allen Staatsbürgern, auch den weiblichen – gewählte Repräsentation erarbeitet und verabschiedet werden sollte. Zwei Tage später erhielt Hugo Preuß, Staatssekretär des Reichsamtes des Innern, den Auftrag, einen Verfassungsentwurf zu erstellen, und am 30. November erging ein Reichswahlgesetz.

Der Konsens innerhalb des Rates der Volksbeauftragten mit Blick auf dieses Vorgehen war allerdings brüchig. Das hatte seine Ursache in der Reserve der USPD gegenüber jeder Konzession an „bürgerliche“ Vorstellungen. In ihren Reihen gab es starke Sympathien für das sowjetische Modell. Nur blieb die Haltung der „Usepeter“ schwankend. Ganz anders die Anhänger des Spartakusbundes, der seit dem Januar 1919 als Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) auftrat und die Teilnahme an Wahlen ablehnte, um die Revolution auf dem Weg „weiterzutreiben“, den die Bolschewiki eingeschlagen hatten. Der wesentlich von der KPD (und Teilen der USPD) getragene Januar-Aufstand diente nicht zuletzt dem Zweck, die Wahl der Nationalversammlung zu sabotieren, den Rat der Volksbeauftragten, aus dem sich die Unabhängigen schon zurückgezogen hatten, zu stürzen und mit Gewalt die Macht zu übernehmen. Das gelang aber nicht, da die Erhebung relativ rasch niedergeschlagen werden konnte, die Wahlen am 19. Januar planmäßig stattfanden und die Nationalversammlung nach Weimar auswich. In Ermangelung eines anderen Tagungsortes kam sie dort am 6. Februar im Nationaltheater zusammen. Fast alles mußte improvisiert werden, angefangen von der Unterbringung der Abgeordneten über die Beschaffung von Büroräumen und -materialien bis hin zur Versorgung der Teilnehmer und ihrer Mitarbeiter mit Lebensmitteln und den Gütern des täglichen Bedarfs. Die größten Schwierigkeiten waren allerdings inhaltlicher Natur.

Schwierige Koalition der SPD mit DDP und Zentrum

Entgegen der ursprünglichen Erwartung hatten die sozialistischen Parteien keine Mehrheit errungen. Zwar stellte die MSPD mit 37,9 Prozent der Stimmen die stärkste Fraktion, aber die USPD hatte für ihren radikalen Kurs oder ihr Lavieren mit einer deutlichen Abstrafung bezahlt; sie konnte nur 7,6 Prozent der Wähler gewinnen. Ebert erkannte deshalb rasch, daß er andere Koalitionsmöglichkeiten sondieren mußte. 

Naheliegend war ein Zusammengehen mit der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), deren Vorsitzender Friedrich Naumann sich offen für Verhandlungen zeigte, allerdings meinte, daß die Regierung auf einer breiteren Basis stehen müsse. Man nahm deshalb Gespräche mit dem katholischen Zentrum auf, die schließlich zum Erfolg und zur Bildung eines Kabinetts unter Leitung des Sozialdemokraten Philipp Scheidemann führten. Diese „Weimarer Koalition“ wußte in der Nationalversammlung mehr als drei Viertel der Abgeordneten hinter sich.

Sozialdemokraten, Linksliberale und Zentrum hatten bereits während des Krieges eine tastende Zusammenarbeit gesucht. Doch gab es abgesehen vom Bekenntnis zur repräsentativen Demokratie und zur republikanischen Staatsform auch erhebliche Differenzen, die sich nur mit Mühe überbrücken ließen: in wirtschaftspolitischer Hinsicht – vor allem was die Sozialisierung von Industrien und die Ausweitung der Arbeitnehmerrechte betraf – zwischen MSPD und DDP, in kulturpolitischer Hinsicht – vor allem was die Stellung der Kirchen anging – zwischen MSPD und Zentrum. 

In bezug auf den letzten Punkt überlagerte die Auseinandersetzung außerdem der Konflikt um die Reichsreform, also die Frage, welche Sonderrechte den Ländern verbleiben sollten und ob man Preußen (das fast sechzig Prozent des Reichsgebietes umfaßte) fortbestehen lassen oder auflösen würde. Die entscheidenden Debatten wurden nach einer ersten Generalaussprache anhand des von Preuß erarbeiteten Entwurfs im „Verfassungsausschuß“ geführt. 

Der trat seit dem 4. März 1919 regelmäßig zusammen, bildete allerdings auch Unterausschüsse, etwa den von Naumann geleiteten, der die „Grundrechte des deutschen Volkes“ festlegen sollte. Vom 2. bis zum 22. Juli fand die zweite Lesung des Verfassungsentwurfs im Plenum statt; danach kam es zu einer Reihe erheblicher Änderungen. Es folgte vom 29. bis zum 31. Juli die dritte Lesung, zuletzt die namentliche Abstimmung. Der Verfassung als Ganzes stimmten bei einer Enthaltung 262 Abgeordnete zu, 75 votierten dagegen. Letztere gehörten zur USPD, zu verschiedenen bayerischen Gruppierungen, denen die Länderrechte nicht weit genug gingen, zur Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und zur Deutschen Volkspartei (DVP), die die neuen Gegebenheiten nur unter Vorbehalt akzeptieren wollten und sich weiterhin zur Monarchie als Staatsform bekannten.

Am 11. August 1919 konnte Ebert die Verfassung in Kraft setzen. Sie legte die Ordnung einer Präsidialdemokratie fest. Die Verfassungstradition – das Zweikammersystem, die doppelte Gewaltenteilung über die föderative Gliederung, der Erhalt Preußens als Ganzes – wurde mit neuen Vorstellungen verknüpft, das heißt mit der unmittelbaren Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung durch Volksbegehren und Volksentscheid und die Zuerkennung des Wahlrechts an die Frauen. 

In einer Mischung aus Nützlichkeitserwägungen, nach denen die Deutschen noch einer starken sichtbaren Repräsentation an der Staatsspitze – eines „Ersatzkaisers“ – bedurften und der Annahme, daß ein direkt gewählter, im besten Fall: charismatischer, Führer die Anonymität des modernen Staates mindern würde, entschied sich die Nationalversammlung außerdem für die starke Stellung des Reichspräsidenten. Er war nicht nur Oberbefehlshaber der Reichswehr, sondern ernannte auch den Reichskanzler, hatte die Befugnis, den Reichstag aufzulösen und konnte im Ausnahmezustand ein Notverordnungsrecht gemäß Artikel 48 der Reichsverfassung anwenden.

Künftiger Friedensvertrag war das Damoklesschwert

Bereits nach der Abstimmung über die Verfassung hatte Gustav Bauer, der Nachfolger Scheidemanns, vor der Nationalversammlung erklärt, daß man nun nach fünf Jahren endlich „wieder auf festem Boden“ stehe. Die Verfassung sei die „wahre Geburtsurkunde des freien Staatswesens“ und verbürge eine hellere Zukunft. Allerdings sprach Bauer auch davon, daß ein „Riß“ durch das Volk gehe und forderte die Deutschen auf, sich daran zu erinnern, daß sie als „Landsleute, Blutsverwandte“ „in einer unlösbaren Schicksalsgemeinschaft“ stünden, ganz abgesehen davon, daß sie „der Friedensvertrag (…) wie eine unlösbare Fessel aneinanderschmiedete“. 

Das war ein Hinweis auf das entscheidende Faktum, daß die Nationalversammlung sich seit mehr als einem halben Jahr nicht nur mit der Arbeit an der Verfassung, sondern auch mit den Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen beschäftigen mußte. Als die Bedingungen der Entente dann bekanntgegeben wurden, hatte Scheidemann die berühmten Worte gesprochen, daß die Hand verdorren müsse, die das Diktat der Sieger unterzeichne. Er war von seinem Amt zurückgetreten, die DDP verließ die Koalition. Auf Scheidemann folgte Bauer, auch er ein Mehrheitssozialdemokrat. Nach scharfen Auseinandersetzungen stimmte die Nationalversammlung schließlich mit einer Mehrheit – bestehend aus USPD, MSPD, einem Teil des Zentrums und der DDP – für die Unterzeichnung. DNVP und DVP votierten dagegen, erkannten aber die Beweggründe der übrigen grundsätzlich an.

Trotzdem war für einen erheblichen  und wachsenden Teil der Deutschen die „Verfassung (...) doch vollkommen unverständlich, wenn man nicht die Bedingungen dieses Mordfriedens als Kommentar daneben“ las, wie es der Sprecher der Deutschnationalen formuliert hatte. Das Scheitern Weimars kann deshalb kaum auf die wirklichen oder vermeintlichen Konstruktionsfehler der Verfassung – die überstarke Stellung des Reichspräsidenten, das Verhältniswahlrecht etwa –, zurückgeführt werden. Ausschlaggebend war die Traumatisierung durch Niederlage und Friedensdiktat, die eine dauerhafte Schwächung der Überzeugungskraft des demokratischen Prinzips und der republikanischen Staatsform zur Folge hatte.