© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/19 / 22. Februar 2019

In zehn Folgen zum Doktor
Viele Serien sind mittlerweile so detailliert, daß Fans sie für ein Fernstudium halten könnten
Boris T. Kaiser

Fans der Krankenhaus-Serie „Emergency Room“ versuchten einen gerne von ihrer Lieblingsfernsehsendung zu überzeugen, indem sie erzählten, wie realistisch die Geschichten aus der TV-Notaufnahme doch seien. Und spätestens beim Umherwerfen mit Milligramm-Angaben und latainischen Knochen- und Organbezeichnungen wurde aus so manchen Zuschauer ein Hobbyarzt. 

Tatsächlich arbeiteten sich die Autoren akribisch in die Thematik ein. Sie verbrachten Zeit in lokalen Unfallstationen, ließen sich von Ärzten und Krankenschwestern beraten, hatten zum Teil sogar selbst eine Ausbildung im Gesundheitswesen vorzuweisen. Die Dialoge beinhalten zahlreiche medizinische Fachausdrücke, oft ohne daß diese dem Zuschauer erklärt werden. Auch bei Kulissen und selbst bei der beruflichen Entwicklung der Figuren wurde – zumindest im englischsprachigen Original – auf höchste Authentizität geachtet.  

So viel Realismus im Fernsehen war man damals nicht gewohnt. In Deutschland, wo TV-Kommissarinnen auch schon mal Antifa-Unterstützer sind, ist man es bis heute nicht. In den USA dagegen ist dieser Naturalismus inzwischen gang und gäbe. Vom Polizisten bis zum Kriminellen werden in den Produktionen so ziemlich alle Berufsgruppen und ihre Angehörigen mit fast schon beängstigender Liebe zum Detail porträtiert, so daß sich einige schon in einem Fernstudium oder einer Weiterbildungsmaßnahme an der „Neflix-Universität“ wähnen.

Die Anwaltsserie „Better Call Saul“ filetiert genüßlich Gesetzeslücken und Gummiparagraphen des amerikanischen Justizsystems. Sie läßt sich aber in weiten Teilen ohne weiteres auf jeden anderen westlichen Rechtsstaat übertragen, in dem findige Juristen jeden Interpretationsspielraum in den Gesetzestexten nutzen, um das Beste für sich und ihre mitunter zwielichtigen Mandanten herauszuholen.

Zum Rocker oder Drogenkoch weiterbilden

Die Drehbuchautoren tauchen bei der Schilderung der Justizfälle so tief in die Materie ein, daß man als Zuschauer, der nicht alle Folgen der mittlerweile vier Staffeln der Serie gesehen hat, Gefahr läuft, im Paragraphenwirrwarr unterzugehen. Aber auch dieses Durcheinander hat etwas Authentisches. Denn, wie sagen selbst Juristen immer wieder gern: „Vor Gericht und auf hoher See ist man allein in Gottes Hand.“ Wer „Better Call Saul“ von Anfang an aufmerksam verfolgt hat, könnte dagegen das trügerische Gefühl bekommen, sich inzwischen so viel Rechtswissen angeeignet zu haben, daß er sich, im Falle eines Falles, vor Gericht durchaus selbst verteidigen könnte oder sich auf die nächste Konfrontation mit einem Ordnungsamtbeamten freut. 

Überhaupt vermitteln einem moderne Serien durch die Nähe zu ihren Protagonisten und ihrer Thematik oft den Eindruck, man wäre nach einem entsprechend langen „Binge-Watching“-Marathon vor dem Fernseher in der Lage, sich in den einst fremden Welten zu bewegen wie ein Fisch im Wasser – und das nicht nur als Mediziner oder Jurist. Die US-Produktion „Sons of Anarchy“, die lose an Shakespeares Hamlet angelegt ist, schildert sieben Staffeln lang das Leben in einem fiktiven Motorradclub. Die Geschichten der Rocker wurden dabei in einer mitreißenden Bild- und Sprachgewalt erzählt, wie es zuvor vielleicht nur dem Erfinder des Gonzo-Journalismus, Hunter S. Thompson, in seinem Literatur-Bestseller „Hell’s Angels“ gelungen ist.

Auch die schon jetzt zum Klassiker stilisierte und von Fans nahezu kultisch abgefeierte Serie „Breaking Bad“ taucht tief ein ins kriminelle Milieu – in diesem Fall die Drogenszene. Wohl noch mehr als die meisten anderen Serien gibt sie dem Zuschauer die Möglichkeit, sich mit dem Antihelden zu identifizieren. Schließlich ist die Hauptfigur, Walter White, ein biederer Chemielehrer, der nur aufgrund eines schweren Schicksals (Lungenkrebs und Geldsorgen) zum Methkoch wird. So mancher Normalo dürfte sich nach zwei Staffeln „Video-Seminar“ gedacht haben, jetzt auch den Gaskocher anwerfen zu können. Wer nicht auf das Schicksal warten oder den „Lehrgang“ mit ein paar Übungen begleiten will, kann auch schon früher Dealer spielen. Der Spielwarenriese „Toys ‘R’ Us“ verkauft ganz nach dem Motto „Früh übt sich“ Figuren mit Spielzeugwaffen und Plastikdrogen zur Serie. 

Wer auch beim Thema Betäubungsmittel gern ein paar Nummern größer denkt, für den bietet „Narcos“ den richtigen Leitfaden. Zu der Serie um die großen kolumbianischen und mexikanischen Kokain-Kartelle soll in diesem Jahr auch ein Videospiel herauskommen. Immerhin kann man bei diesem theoretisch auch auf der Seite der amerikanischen Drogenvollzugsbehörde spielen. Was immer einem näher liegt und wohin diese „Fortbildung“ einen vielleicht bringen soll.