© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/19 / 01. März 2019

Stunde der Opposition
Parlamentswahl Estland: Spannend erwartet wird das Abschneiden der neuen Partei „Eesti 200“ und der nationalen EKRE
Ralph Meese

Unternehmer, Wissenschaftler und andere Experten sollen künftig die Politik Estlands bestimmen und weniger Berufspolitiker. Das Land benötige Transparenz, Verantwortung aller, Innovation, estnischen Geist und mutige Ideen, um Probleme langfristig zu lösen.

 Mit diesem Appell an die Wähler könnte die aus der Protestbewegung „Estland 200“ im November 2018 hervorgegangene, gleichnamige neue Partei bei den Parlamentswahlen am 3. März aus dem Stand mehr als sieben Prozent der Wählerstimmen gewinnen, locker die Fünfprozenthürde nehmen und bei der Bildung der künftigen Regierung ein entscheidender Faktor sein. 

Zur Besonderheit der baltischen Republik gehört, daß die beiden größten Parteien, die Reform- und die Zentrumspartei, stets Koalitionen mit kleinen Parteien gebildet haben. Vor vier Jahren hatte die prowestliche liberale Reformpartei mit 27,7 Prozent (30 Sitze) vor der linksgerichteten prorussischen Zentrumspartei (27 Sitze) die Wahlen gewonnen. 

Mißtrauen prägt die politische Landschaft 

Allerdings zerbrach das von Premier Taavi Roivas gebildete Bündnis mit den für Solidarität und Chancengleichheit kämpfenden Sozialdemokraten und dem konservativem Wahlbündnis Pro-Patria- und Res-Publica-Union (Isamaa, IRL) bereits anderthalb Jahre später nach einem Mißtrauensvorum. Roivas Partei ging in die Opposition, und die Zentrumspartei übernahm die Führung des regierenden Dreierbündnisses. 

Das wiederum ging nur bis Anfang Oktober gut, als mit dem Austritt der Abgeordneten Tiina Kangro die Regierungskoalition den entscheidenden 51. der 101 Sitze zählenden Volksvertretung Riigikogu verlor. 

Obgleich seitdem ohne Mehrheit, schaffte es Regierungchef Jüri Ratas trotzdem, den mit rund 11,3 Milliarden Euro umfassendsten Haushalt für das laufende Jahr durch das Parlament zu bringen. Überdies ist es ihm gelungen, seine traditionell auf die Interessen der russischsprachigen Minderheit ausgerichtete Partei neu aufzustellen, ohne diese Wählerschaft zu verprellen. Um auch andere Bevölkerungsschichten zu gewinnen, ist die Partei auf einen proeuropäischen Kurs eingeschwenkt, so daß sich die außenpolitischen Positionen kaum noch von denen der Reformpartei unterscheiden. 

Aktuell gibt es in den Wahlumfragen das für Estland typische Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Reform- und Zentrumspartei, bei dem erstere  leicht in Führung liegt. Den mitregierenden Sozialdemokraten werden dagegen, wie auch der IRL, gravierende Verluste prognostiziert. Die oppositionelle konservative Estnische Freie Partei (Eesti Vabaerakond) muß sogar um ihren Wiedereinzug ins Parlament bangen. Wachsender Zustimmung erfreut sich dagegen die nationale Estnische Konservative Volkspartei (EKRE) mit ihrem Vorsitzenden Mart Helme. Diese könnte um zehn auf 18,2 Prozent zulegen und wäre so die drittstärkte politische Kraft Estlands. 

Politisches Hauptziel der EKRE ist das Überleben des estnischen Volkes.  Die Partei fordert Familienhilfsprogramme, will die Einwanderung aus Nicht-EU-Ländern verhindern und die EU-Bürokratie einschränken. Sie fordert mehr direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild. Auch müsse die Zahl der Esten in Estland erhöht werden, heißt es mit Blick auf die große russische Minderheit.