© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/19 / 01. März 2019

Machtpoker um eine Sandbank
Ussuri-Konflikt: Die Großmächte China und Sowjetunion gerieten 1969 an den Rand eines Krieges
Jürgen W. Schmidt

Die anderthalb Kilometer lange und bis zu 500 Meter breite Insel Damanski liegt inmitten des Flusses Ussuri, welcher an diesem Teil des Fernen Ostens die Staatsgrenze zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China bildete. Obwohl die flache und unbewohnte Sandinsel wesentlich näher am chinesischen als am sowjetischen Flußufer lag, wurde sie von der Sowjetunion unter Berufung auf einen alten Grenzvertrag des Zarenreiches mit China vom Jahr 1860 als ihr Staatsterritorium betrachtet. 

Im März 1969 wählte die chinesische Führung, als die ideologischen Gegensätze und daraus resultierend auch der politische Kampf um Machtansprüche im asiatischen Raum zwischen der Sowjet-union und der neu erstandenen Groß- und Atommacht China hochkochten, die eigentlich völlig bedeutungslose Insel Damanski aus, um das Ziel einer militärischen Machtprobe zu werden. 

Der Konflikt forderte insgesamt fast 1.400 Tote

Am chinesischen Ufer wurden Truppen versammelt, um am Morgen des 2. März 1969 die nur 47 Meter vom chinesischen Ufer gelegene Insel durch ein Infanteriebataillon in Stärke von 400 Mann, ausgerüstet mit Infanteriewaffen, Granatwerfern und leichten Panzerabwehrwaffen, zu besetzen. Als der alarmierte Kommandeur der nächstgelegenen sowjetischen Grenzwache auf der Insel in Begleitung von 13 Soldaten eintraf, wurden er und seine Begleiter aus ein bis zwei Meter Entfernung niedergeschossen und danach die Leichen der sowjetischen Soldaten mit Kolbenstößen und Bajonettstichen bedacht. Nur ein sowjetischer Soldat, welcher sich totstellte, überlebte das Gemetzel trotz mehrerer Bajonettstiche. 

Daraufhin führte der sowjetischen Grenzoberleutnant Vitalij Bubenin mit einigen gedeckt herangeführten Schützenpanzerwagen eine wilde und völlig unerwartete Attacke auf die Chinesen, und mittels herbeikommender Verstärkungen gelang es bis zum frühen Abend, die Insel von chinesischen Soldaten freizukämpfen. Gemäß sowjetischen Angaben sollen die eigenen Verluste bei 31 Toten und die der Chinesen bei bis zu 248 Toten gelegen haben. Der sowjetische Generalsekretär Leonid Breschnew zeigte sich bei der Meldung über diesen unerwarteten bewaffneten Zwischenfall sichtlich erschrocken und fragte konsterniert „Bedeutet das Krieg?“ 

Seitens der sowjetischen Führung entschied man sich jedoch, den Vorfall nicht als kriegerischen Akt, sondern nur als Grenzzwischenfall zu betrachten. Das hatte zur Folge, daß in erster Linie die dem KGB unterstehenden sowjetischen Grenztruppen etwaige künftige Kampfhandlungen zu führen hatten und die eigentliche Sowjetarmee erst an zweiter Stelle bereitstehen sollte, um sowjetisches Territorium von chinesischen Besetzern freizukämpfen. Auf den Einsatz sowjetischer Luftstreitkräfte, um auf die durch Luft- und Satellitenaufklärung erkannten chinesischen Truppenmassierungen in Grenznähe am Ussuri einzuschlagen, verzichtete man vorerst. 

Dies bewog die chinesische Führung, am 15. März 1969 einen zweiten bewaffneten Angriff zu starten, um die seit dem 2. März beständig auf der Insel stationierten etwa 35 Grenzsoldaten unter Führung eines Oberstleutnants zu verdrängen. Als jene kleine sowjetische Soldatengruppe durch mehrere hundert chinesische Soldaten in hartem Infanteriegefecht von der Insel verdrängt war, führten Artilleriekräfte der Roten Armee massierte Feuerschläge zuerst auf die Insel Damanski und danach auf erkannte chinesische Kräftezusammenballungen und militärische Vorratslager auf zehn Kilometer in der Breite und in bis zu zwanzig Kilometer Tiefe am Ussuri. Dabei kamen neben einem kompletten Artillerieregiment vor allem sowjetische Geschoßwerfer vom Typ „Grad“, eine technische Weiterentwicklung der bekannten „Katjuscha“ mit großer Reichweite und hochwirksamen Raketengranaten, zum Einsatz. 

Strittige Ussuri-Insel wurde 1995 an China übertragen

An jenem 15. März 1969 fielen 58 Soldaten der sowjetischen Streitkräftte. Die chinesischen Verluste schätzte man auf über eintausend Mann. Außerdem wurden nach sowjetischen Erkenntnissen etwa 50 Soldaten und Offiziere der chinesischen Volksbefreiungsarmee wegen Feigheit erschossen. Nachdem beide Großmächte in Folge dieses erneuten Schlagabtausches wüste Drohungen gewechselt hatten, kam es schließlich zu einem vertraulichen Treffen zwischen dem sowjetischen Ministerpräsidenten Alexei Kossygin und dem chinesischen Premierminister Tschou Enlai in Peking. 

Am 11. September 1969 einigten sich beide darüber, die bewaffneten Grenzkonflikte zu beenden und Regierungskonsultationen über den Grenzverlauf am Ussuri anzustellen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde 1995 die territoriale Hoheit über die Insel Damanski (chinesisch Zhenbao Dao) an China übertragen, wozu ein entsprechender Vertrag zwischen Rußland und China am 2. Juni 2005 ratifiziert wurde. Oberleutnant Bubenin erhielt für seinen mutigen Einsatz am 2. März 1969 den Titel eines „Helden der Sowjetunion“ zuerkannt und rückte später zum General und Chef der KGB-Terrorabwehreinheit ALFA auf. Auf chinesischer Seite  zeichnete man zehn Heeresangehörige für ihren Einsatz in den Kämpfen um  die Insel Damanski 1969 mit dem Titel „Held Chinas“ aus.