© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/19 / 01. März 2019

„Für Juden gibt es in Polen keinen Platz“
David Kowalskis Dissertation über die Rolle der Juden in der Volksrepublik Polen und die erzwungene Dissidenz nach 1968
Paul Leonhard

Nach dem „polnischen März“, der Studentenrevolte von 1968, wurden Adam Michnik, Józef Dajcz-gewand, Seweryn Blumsztajn, Jan Litynski, Henryk Szlaifer, Irena Grudzinskaja und etliche andere Warschauer Oppositonelle von den Staatsmedien als Juden identifiziert und für eine vermeintliche Verschwörung verantwortlich gemacht, mit der Israel versuche, die „patriotische und sozialistische Dynamik der polnischen Gesellschaft“ zu unterwandern. Eine gezielte Diffamierung, die das „letzte Aufbäumen der jüdischen Hoffnung in den Kommunismus“ beendete, wie David Kowalski in seiner jetzt in Buchform erschienenen Dissertation „Polens letzte Juden. Herkunft und Dissidenz um 1968“ nachweist.

Im Mittelpunkt steht der von Adam Michnik und Jan Gross 1962 gegründete Schülerklub „Poszukiwacy Sprzecznoscim“ der nach Widerspruch Suchenden. „Obwohl die Akteure der eigenen jüdischen Herkunft keinerlei Relevanz beimaßen“, so die These Kowalskis, habe diese „für das Verständnis der historischen Konstellation der Widerspruchsuchenden und der Protestbewegung von 1968 eine entscheidende Rolle“ gespielt. Bedeutend sei dabei nicht die Abstammung, sondern „ein spezifischer Erfahrungshintergrund und ein damit verbundenes politisches, kulturelles und nationales Selbstverständnis, das sich im Handeln der Akteure Geltung verschaffte“, gewesen.

Führungskader der KP mit vielen polnischen Juden

Wenn er lese, daß das Leben der Juden im Nachkriegspolen ein Albtraum gewesen sei, „dann fallen mir die Bekannten meines Vaters ein, jüdische Kommunisten, die vor dem Krieg im Gefängnis gesessen hatten und jetzt die Wohnungen in der Rosenallee erhielten, während die Soldaten der Heimatarmee in den Lagern und im Gefängnis bis zu den Knöcheln in der Scheiße stehen mußten“. So zitiert Macric Shore in seinem Buch „Der Geschmack von Asche: Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa“ den einstigen polnischen Oppositionellen und heutigen Chefredakteur der Tageszeitung Gazeta Wyborcza, Adam Michnik.

Mit diesem Satz beschreibt der Sohn überzeugter Kommunisten jüdischer Herkunft den Grundkonflikt im Polen der Nachkriegszeit. Ausgerechnet jenes Land, für dessen Freiheit und Unabhängigkeit Frankreich und Großbritannien dem Deutschen Reich 1939 den Krieg erklärt hatten, war sieben Jahre später zwar als Staat wiedererstanden, aber als ein dem Sozialismus zugewandter von Stalins Gnaden.

Große Teile der bürgerlichen Elite waren tot, die nationale Heimatarmee 1944 beim Warschauer Aufstand verblutet und aus dem offiziellen Gedächtnis Volkspolens gestrichen. Deren Überlebende schlossen sich noch enger der katholischen Kirche an. Anders die Kommunisten, die aus dem Exil zurückkehrten oder im Untergrund überlebt hatten. Diese übernahmen Funktionen im neuen Staat, in dem sich überraschend schnell eine Monopolbürokratie herausbildete, vor der schon Rosa Luxemburg in ihrer Schrift „Zur Kritik der russischen Revolution“ warnte und die der jugoslawische Dissident Milovan Djilas 1957 in seiner „Analyse des kommunistischen Systems“ als eigene Klasse beschrieb.

Wie später in der DDR waren es auch im Polen der 1960er Jahre privilegierte Funktionärskinder, die die Ideale eines besseren, menschlichen, entbürokratisierten Sozialismus umtrieben. Als Michnik und Gross den Klub der Widerspruchsuchenden gründeten, waren sie 15 und 14 Jahre alt. „Wir wußten, daß in Polen eine auf einem Lügengebäude beruhende Diktatur herrschte“, erinnert sich Michnik, „allerdings begehrte ich als Kommunist auf, ich interessierte mich für Trotzki und die Unterschiede zwischen dem frühen und dem späten Marx, während Jan das völlig gleichgültig war. Er interessierte sich für Thomas Mann.“

Damit dürfte auch das Spektrum umrissen sein, mit dem sich die knapp hundert Jugendlichen, mehrheitlich jüdischer Herkunft, bei ihren Treffen beschäftigten. Es ging um politisch und gesellschaftlich relevante Fragestellungen, aber auch um die Selbstverortung in einem System, das vorgab, auf einer wissenschaftlich fundierten Grundlage allen anderen überlegen zu sein. Der Freundeskreis wollte mit den in Warschau wiedererstandenen jüdischen Lebenswelten nichts zu tun haben, sondern definierte Polen als eine in ihren kulturellen Traditionen, Werten und Perspektiven geeinte Nation. Die Eltern, zumeist kommunistische Funktionäre, hatten sich derart weit von allem Jüdischen entfernt, daß „manche ihre Kinder nicht einmal über ihre Herkunft unterrichteten“, schreibt Kowalski.

Verstört reagierten die Oppositionellen, als ihnen ihr Zugehörigkeitsgefühl zur polnischen Nation abgesprochen wurde: „In der Zeitung stand, daß ich ein Jude sei und daß es für mich in Polen keinen Platz gäbe“, erinnert sich Michnik: „Ich war damals 21 Jahre alt und hätte es nie für möglich gehalten, daß man in der polnischen Sprache überhaupt so etwas schreiben kann.“

Nicht nur Michnik begann sich angesichts der antizionistischen Kampagne zu fragen, „ob ich nicht tatsächlich Jude bin und aus Polen weggehen sollte“. Während er sich aber den eigenen Zweifeln widersetzte und wie eine Minderheit von wenigen tausend in Polen blieb und für die Freiheit kämpfte, verließen 15.000 (einige Schätzungen sprechen von 25.000) Juden die Volksrepublik in den Westen.

David Kowalski: Polens letzte Juden. Herkunft und Dissidenz um 1968. Verlag Vandenhoeck & Ru-precht, Göttingen 2018, gebunden, 256 Seiten, 45 Euro