© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/19 / 01. März 2019

Dem Sinngemäßen auf der Spur
Wer war Walter Hallstein tatsächlich? Ein nicht „wortwörtlicher“ Nachtrag zu den Mären Robert Menasses
Wolfgang Müller

Die Ende 2018 aufgeflogenen Zitat-Fälschungen des Wiener Schriftstellers Robert Menasse (JF 3/19) standen etwas im Windschatten des zeitgleichen Skandals um den Spiegel-Lügenbold Claas Relotius. Weniger peinlich für den bundesdeutschen Kultur- und Medienbetrieb sind sie deshalb nicht. Menasse, ein „Träumer“ (Selbsteinschätzung), war seit den 1990ern mit eher mäßigem Erfolg als Romancier und Essayist auf dem Buchmarkt präsent. Der Blätterteig dieses Frühwerks offerierte Gesellschaftskritik nach dem Muster der „Frankfurter Schule“, regionalspezifisch eingesäuert mit penetranten Warnungen vor latentem „Austrofaschismus“. 

Auch wohl wegen lästiger Konkurrenz allzu vieler, die gleiche Masche strickender Selbstankläger wechselte Menasse 2005 das Geschäftsmodell. Seitdem widmet er sich der „ertragreichen Bewirtschaftung der Marktlücke EU-Agitprop“ (Christian Ortner, Wiener Zeitung vom 8. November 2018). Und dabei ist diesem „politischen Narren“ (Jacques Schuster, Die Welt vom 9. Januar 2019) dann die zündende Idee gekommen, Auschwitz mit der Geburt des EU-Vorläufers Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu verbandeln. Indem er eine fiktive Gründungsrede Walter Hallsteins (1901–1982), ihres ersten Präsidenten, mit dichterischer Freiheit in dieses in der damaligen Volksrepublik Polen liegende einstige NS-Vernichtungslager verpflanzte. 

Die dilettantisch getürkte Hallstein-Rede findet sich in Menasses 2017 mit dem Deutschen Buchpreis prämierten EU-Roman „Die Hauptstadt“ (JF 43/17). Der Verfasser gab die Hallstein-Schnurre aber auch öfter in nicht-fiktionalen Texten als historische Tatsache zum besten. Sie paßte einfach zu schön in die Privatmythologie des Brüsseler Bänkelsängers, der seit langem dafür wirbt, zugunsten eines Superstaates die Nationen aufzulösen, weil sich nur so eine allein durch deren schiere Existenz mögliche Wiederholung von „Auschwitz“ verhindern ließe.

Selbstbestimmte kollektive Existenz als Lebensthema

Sicher ist Menasse einer der am meisten überschätzten und „innerhalb der großdeutschen Sozialdemokratie bestens vernetzten literarischen Dienstleister“ (Henryk M. Broder). Was die imposante Summe von 308.000 Euro nur bestätigt, die „Menassauer“ (Kollegenhäme), dank gut geölter „Freundlwirtschaft“ in den Vergabegremien, wie Recherchen des Salzburger Autors Dietmar Horst belegen, allein zwischen 2001 und 2011 als Dauerstipendiat des österreichischen Kultusministeriums abgriff. 

Solches „Verhätscheln“ verrät allerdings mehr über seine Gönner als über deren Favoriten. So hält die Feuilletonistin Iris Radisch auch nach dem geplatzten Hallstein-Schwindel in Treue fest zu ihrem für Europa ach so „sympathisch entflammten“ Menasse, der für sie ein „bedeutender europäischer Intellektueller“ bleibt (Die Zeit vom 10. Januar 2019). Und ebenso unbeeindruckt von der Kritik verlieh die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) dem „engagierten Streiter für die europäische Idee“ am 18. Januar 2019 den Carl-Zuckmayer-Preis.

Was nur möglich war, weil der „mit übelsten Tricks“ (Chaim Noll) brillierende Menasse auf die Dummheit derer spekulieren darf, die in einer inzwischen sehr fernen Vergangenheit als „kritische Intelligenz“ auftraten. Denen verkauft er, ohne Protest fürchten zu müssen, da historisches Bewußtsein in diesen Kreisen heute rückstandslos verdampft ist, weiter frech eine nur mäßig abgespeckte Version seiner Hallstein-Lüge. 

Die geht so: Der EWG-Präsident sprach 1958 zwar nicht in Auschwitz, aber er hätte dort proklamieren können, was Menasse ihm in den Mund legt – die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa zwecks Verhinderung eines zweiten Völkermords. „Das Geringste, das Wortwörtliche“, gebe er gern preis, da diese Konzession nichts daran ändere, daß „der Sinn korrekt“ sei. Hallstein hätte also „sinngemäß“ die EWG hypermoralisch auf Auschwitz einschwören und daraus die Forderung ableiten wollen, Europas Nationalstaaten abzuschaffen.

Widerspruch gegen diese Phantastereien regte sich bislang nicht. Dabei genügt schon eine oberflächliche Beschäftigung mit der Biographie und der politischen Ideenwelt, in der Hallstein von früh auf zu Hause war, um Menasse endgültig ruhigzustellen. Ja, es genügt ein Blick auf die Physiognomie. Hornbrille, Scheitel, Krawatte, Zigarre, militärischer Habitus, so ließ sich der 1950 zum Staatssekretär in Konrad Adenauers Kanzleramt avancierte Professor gewöhnlich ablichten. Jeder Zoll „ein harter Herr“, wie Armin Mohler bewundernd über dessen Altersgenossen Arnold Gehlen urteilte. Neudeutsche, den Völkermord an den Juden Europas obszön banalisierende, zur Kaschierung eines Katastrophenkurses mißbrauchende Gefühlspolitik à la Menasse, wie sie in der Berliner Republik haussiert, kann sich daher nicht einmal ansatzweise „sinngemäß“ auf den Typus Hallstein berufen.

Das politische Denken der „vaterländisch“ konditionierten Alterskohorte, der der Sohn eines Mainzer Regierungsbaurats angehörte, kreiste zeitlebens um die Frage, unter welchen Bedingungen selbstbestimmte kollektive Existenz im 20. Jahrhundert noch möglich ist. Bis 1945 setzte sie ihre Hoffnung auf die souveräne deutsche Nation, ab 1940 liebäugelten viele, die „Außenpolitiker“ des 20. Juli ebenso wie von Carl Schmitt geschulte Juristen (Ernst Rudolf Huber, Wilhelm G. Grewe), mit dem europäischen „Großraum“ unter deutscher Hegemonie. Nach dem Zusammenbruch 1945 boten sich dann Montan-Union, EWG und schließlich, bis zu Helmut Kohls Kapitulation von Maastricht, die EU als neue Instrumente nationaler Selbstbehauptung an.

Wie kräftig die nationale Prägung bei Hallstein ausfiel, haben Michael Buddrus und Sigrid Fritzlar in ihrem biographischen Handbuch über „Die Professoren der Universität Rostock im Dritten Reich“ (München 2007) rekonstruiert. In den Personalakten des 1932 an die mecklenburgische Landesuniversität auf einen Lehrstuhl für Bürgerliches Recht berufenen Berliner Dozenten zeugen zwar viele Mitgliedschaften (NS-Rechtswahrerbund, NS-Dozentenbund, NS-Lehrerbund, NS-Volkswohlfahrt) vom nicht nur ab 1933 üblichen akademischen Opportunismus. 

Aber mehr als das, was pro forma einem Karriereschnaufer nützt, hat Hallstein eben doch nicht auf dem „Schuldkonto“. Als Dekan, so wie Hallstein in Rostock von 1936 bis 1941, in Frankfurt ab 1942, mußte nicht amtieren, wer Distanz zum Regime halten wollte. Auch der in der Akademie für Deutsches Recht – Präsident war Hans Frank, zu dessen „Generalgouvernement“ Auschwitz und andere Vernichtungslager gehörten – etablierten AG für Deutsch-Italienische Rechtsbeziehungen unter dem Volksgerichtshofpräsidenten Otto Thierack konnte man die kalte Schulter zeigen. 

Nicht so Hallstein, der unter Thieracks Führung 1938 gen Süden reiste, um mit faschistischen Kollegen in Rom zu tagen. Wenige Monate später sprach er auf der Rostocker Universitätsfeier zum „Tag der nationalen Erhebung“ (30. Januar 1939) über „Die Reichseinheit Großdeutschlands“, um die 1938 erfolgte, „alte völkische Sehnsucht erfüllende Heimkehr der Ostmark und des Sudetenlandes“ in die „Tradition der großdeutschen Einigungsbemühungen des 19. Jahrhunderts zu stellen und zu rechtfertigten“ (Bernd Bühlbäcker, „Europa im Aufbruch 1949–1958“, Essen 2007). Zurückhaltung übte er bis Ende nicht, da sich Oberleutnant Hallstein, obwohl nicht Parteimitglied, noch 1944 bei der Flakartillerie im besetzten Frankreich als NS-Führungsoffizier engagierte. Hieße Hallstein Schmitt oder Heidegger, ließe sich mit solcher Vita immer noch ein stattliches „Nazi“-Faß aufmachen.

Klar ist schon bis zu diesem Punkt der Biographie, daß Menasses Popanz mit dem wahren Hallstein nichts zu tun hat. Wer die Linien dann in Richtung auf den EWG-Präsidenten auszieht, kommt ins Rätseln darüber, wie erschütternd desorientiert eine Öffentlichkeit ist, die vom kindischen Schwadronieren Menasses nicht nur überhaupt Notiz nimmt, sondern ihn mit einem Sturzbach von Preisen und Stipendien überschüttet. 

Keine Silbe von Abschaffung der Nationalstaaten

Dagegen hilft nur Faktenwissen. Das etwa die bahnbrechende Studie Reinhard Neebes vermittelt, die das EWG-Projekt im Rahmen der westdeutschen „Weltmarktpolitik“ in der Ära Ludwig Erhards untersucht und zutreffend als „Weichenstellung für die Globalisierung“ (Köln 2004) interpretiert. Die Integration Westeuropas, die der, allerdings um die „besondere Art“ eines jeden „Volkes und seiner Geistigkeit“ besorgte Zentralist und preußische Neuhumanist Hallstein tatsächlich zu heutigen Brüsseler Dimensionen ausweiten wollte, folgte dabei jedoch stets dem moralinfreien Imperativ, Europas Gewicht „im großen Spiel der Weltpolitik in die Waagschale zu werfen“, wie Adenauers Außenminister Heinrich von Brentano 1955 kühl formulierte. 

Von der Abschaffung der Nationalstaaten unter Berufung auf Auschwitz, gar davon, ihre demokratischen Verfassungen dem Untergang zu weihen, sich vom „Prinzip Staatsbürgerschaft“ abzukehren und den Kontinent zum Siedlungsgebiet für jedermann zu erklären, wie Menasse fordert, ist bei Walter Hallstein mit keiner Silbe die Rede.