© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/19 / 08. März 2019

„Eine enorme Bedrohung“
Er beriet General Schwarzkopf im ersten, Verteidigungsminister Rumsfeld während des zweiten Irakkriegs sowie die Regierung Obama. Der US-Sicherheitsexperte und Stratege John Arquilla gilt als Vordenker des Cyberkriegs – dem er den Namen gab
Moritz Schwarz

Herr Professor Arquilla, wie kamen Sie darauf, den Begriff „Cyberkrieg“ zu prägen?

John Arquilla: Das war 1993, als mein Kollege David Ronfeldt und ich bei der RAND-Corporation waren, einer Denkfabrik, die die US-Streitkräfte berät, und wir eine Schrift mit dem Titel „Cyberwar is coming“ (Der Cyberkrieg kommt) veröffentlichten. Dabei griffen wir auf das griechische Wort „kybernetike“ zurück, was soviel wie kontrollieren, steuern heißt: So wie bei den alten Griechen der Steuermann, der Wetter und Strömung beobachtete, also nichts anderes tat, als Daten zu sammeln und auf dieser Grundlage einen Kurs berechnete, also die Daten verarbeitete. Das versetzte ihn in die Lage, sein Schiff richtig zu steuern, sprich die Fahrt effektiv zu gestalten. Allerdings fand der Begriff Cyber schon vor uns im Wort Cyberspace moderne Verwendung. Wir nutzten ihn nun, um unsere Erkenntnisse aus dem Irakkrieg von 1991 zu formulieren. 

Als Geburtsjahr des World Wide Web gilt 1993. Wie konnten Sie da bereits 1991 Erkenntnisse über Internetkriegsführung gewonnen haben?

Arquilla: Ihre Frage beruht auf einem typischen Mißverständnis, nämlich daß Cyberkrieg zwingend mit dem Internet zu tun habe. Das aber ist nicht der Fall. 

Sondern? 

Arquilla: In erster Linie meint Cyberkriegsführung, Informationen in so hohem Grade zu gewinnen und zu verarbeiten, daß die Abläufe auf dem Gefechtsfeld in einem Maße gesteuert und koordiniert werden können, wie das früher nicht möglich war. Konkret: 1991 konnten unsere Streitkräfte aufgrund ihrer Überlegenheit bei der Informationsgewinnung und -verarbeitung den Feldzug gegen Saddam Hussein mit einer zuvor nicht möglichen hohen Bewegungsgeschwindigkeit sowie unter äußerst geringen eigenen Verlusten und schweren Verlusten für die Iraker führen. 

Aber Informationen waren schon immer wichtiger Bestandteile von Kriegsführung. 

Arquilla: Sicher, aber der Grad an Information war 1991 so hoch, daß wir uns nicht mehr, wie in früheren Kriegen, durch Aufklärer, wie Spähtrupps, Spähpanzer, Aufklärungsflugzeuge, Stück für Stück vorantasten mußten. Denn bei dieser klassischen Art der Aufklärung lassen sich für weitergreifende und schnellere Bewegungen einfach nicht genug Informationen gewinnen. 1991 aber hatten wir dank moderner Aufklärungstechnologie von Beginn des Feldzuges an so viele Informationen und auch eine solche informationelle Übermacht gegenüber den Irakern, daß wir ohne jede Verzögerung durch klassisches Vorantasten vorrücken konnten und die Iraker überflügelten und ausmanövrierten – und dem Krieg so eine ganz neue strategische Dynamik zu geben vermochten. Denn wir waren in der Lage, buchstäblich alles verfolgen zu können, was im Kriegsgebiet vor sich ging, während die Iraker informationell fast blind waren. Sie mußten, wollten sie wissen, wie die Lage im nächsten Geländeabschnitt war, tatsächlich noch in alter Manier Aufklärungsvorstöße mit Spähern durchführen. So bewegten wir uns frei und schnell, sie sich dagegen fast gar nicht. 

Es ging bei der Idee des Cyberkriegs also ursprünglich gar nicht um Krieg per Internet?

Arquilla: Das ist das, was ich Ihnen zu erklären versuche. Heute denken bei Cyberkrieg alle an diese Kriegsführung im Internet, also im virtuellen Raum, dem sogenannten Cyberspace. Aber darum ging es in der Tat nicht. Wir meinten mit dem Wort „Krieg“ keinen digitalen Kampf, sondern weiterhin den normalen Kampf auf dem Schlachtfeld und mit „Cyber“ nicht den Cyberspace, sondern Führung der Truppen durch ein revolutionäres Informationsniveau dank digitaler Aufklärungs- und Kommunikationstechnik.

Und das soll den entscheidenden Einfluß gehabt haben? 

Arquilla: Auf jeden Fall. Als wir damals unsere Ideen in Sachen Information, Führung und Bewegung für den Irakkrieg 1991 vorstellten, sagte ein Stabsoffizier zu mir: „Arquilla, Sie versuchen da im Guderian-Stil selbst noch Guderian zu überflügeln!“ Heinz Guderian war, ich weiß nicht, ob man das heute noch weiß, ein deutscher Panzergeneral im Zweiten Weltkrieg, legendär ob seiner revolutionären Taktik schneller Bewegung. Ich antwortete ihm, daß das gar kein Kunststück mehr sei, angesichts der Informationstechnologie, die uns inzwischen zur Verfügung stehe, man müsse es nur verstehen, sich ihrer zu bedienen.

Wie aber kam es schließlich zum Bedeutungswechsel des Begriffs, hin zu Kriegsführung im Internet?

Arquilla: Eigentlich gar nicht. Ich sagte doch, auch heute noch meint Cyberkrieg in erster Linie den klassischen Krieg auf dem Schlachtfeld – wenn auch digital geführt. Sie haben allerdings recht, daß der Begriff inzwischen, wenn auch keinen Bedeutungswechsel so doch eine Bedeutungserweiterung erfahren hat und auch den Krieg im Netz meint. Aber das ist seine weniger wichtige Bedeutung.

Warum ist diese „weniger wichtige Bedeutung“ dann so populär, während seine eigentliche kaum jemand kennt?   

Arquilla: Weil letztere eine rein militärische ist, während wir mit dem Internet alle täglich zu tun haben. Wer dagegen kommt im Alltag schon mit dem Thema Gefechtsfeldführung in Kontakt?

Und warum ist diese militärische Bedeutung wichtiger als die populäre? 

Arquilla: Weil Kriege trotz allem nicht im Internet, sondern immer noch auf dem Schlachtfeld entschieden werden. Daran hat sich nichts geändert. 

Wie soll man sich den eigentlichen Cyberkrieg, den Sie meinen, konkret vorstellen? 

Arquilla: Dafür wurde ein System namens JSTARS entwickelt: Das Joint-Surveillance-Target-Attack-Radar-System (Vereinigtes Radarsystem für Überwachung und Angriff). Jetzt fragen Sie natürlich: Was bitte ist das? Nun, sicher haben Sie in den Medien schon mal etwas von AWACS gehört. Darunter versteht man, Sie erinnern sich, ein speziell umgebautes großes Flugzeug, vollgepackt mit Elektronik, um den Luftraum zu überwachen, sowie um als eine Art fliegender Befehlsstand zu dienen, um Luftstreitkräfte zu koordinieren und anzuleiten. Und JSTARS? Das ist dessen Entsprechung für den Land- statt für den Luftkrieg: also ein speziell umgebautes großes Flugzeug, vollgepackt mit Elektronik, um den Kriegsschauplatz am Boden aus der Luft zu überwachen und alle Operationen dort zu koordinieren.

Also eine Art fliegender Dirigent?

Arquilla: Ja, denn JSTARS verfügt über ein Maß an Informationen wie es früher, als Kommandostände noch an oder hinter der Front lagen, unvorstellbar war.

Und welche Rolle spielt das, was Sie die „weniger wichtige Bedeutung“ von Cyberkrieg nennen, der Krieg im Internet?

Arquilla: Nun, im Lauf der neunziger Jahre begannen immer mehr Menschen, Cyberkrieg begrifflich mit dem Internet zu verbinden. Richtig daran ist, daß Vorgänge wie Hacken, „Cybertage“ – also digitale Sabotage – oder „politische Kriegsführung“, also öffentliche Desinformation und Meinungsmanipulation, auch eine Rolle spielen.  

Sind das nicht die entscheidenden Instrumente zukünftiger Kriege? 

Arquilla: Nein. Es sind wichtige Instrumente, ja. Aber entscheidend bleiben allein die konventionellen Streitkräfte.  

Aber Sie selbst haben doch für das amerikanische Fachmagazin „Wired“ das Szenario einer Cyberattacke entwickelt und deren katastrophale Folgen dargestellt, etwa abstürzende Passagierflugzeuge, kollidierende Reisezüge, Zusammenbruch der digital gesteuerten Infrastruktur etc.

Arquilla: Ja, und natürlich wären die Folgen katastrophal. Aber wissen Sie, welche die katastrophalste darunter wäre? Daß dies zu einer Eskalation führen könnte, die in einen realen Krieg mündet! Und damit sind wir wieder beim Thema: Am Ende ist der Krieg im Cyperspace immer erst dann wirklich dramatisch, wenn es ihm gelingt, ernsthafte Auswirkung auf die reale Welt zu haben. Sein größtes Gefahrenpotential liegt also nicht in dem, was er im Netz anrichten kann, sondern in dem, was er anrichtet, wenn es ihm gelingt, über das Netz hinaus zu wirken. Kennen Sie den alten Steven-Spielberg-Film „Jäger des verlorenen Schatzes“? Dort gibt es eine bezeichnende Szene: Der eine zieht ein Schwert – da zieht sein Gegenüber eine Pistole. Das exakt ist unsere Situation: Klassische Kriege nennt man High-Intensity-Conflict, also Konflikte von hoher Intensität. Und gerade deshalb, wegen dieser Intensität, deren Auswirkungen extrem zerstörerisch sind, versucht man allgemein sie zu vermeiden. Attacken im Cyberspace dagegen sind sogenannte Low-Intensity-Conflicts, also Konflikte niedriger Intensität. Was bedeutet, daß ihre Auswirkungen vielleicht schlimm, aber im Vergleich zu einem echten Krieg „milde“ sind. Gerade das aber macht sie wiederum besonders gefährlich, da die Skrupel, sie einzusetzen folglich viel geringer sind. Was man dabei aber nicht bedenkt ist, daß sie eine Eskalation in Gang setzen können – eben wie in diesem Film: Auf das Schwert folgt die Pistole – auf eine Cyberattacke vielleicht ein realer Gegenangriff. Ist das abwegig? Ich warne, nein! Bedenke Sie etwa, daß es Teil der Planung der Trump-Regierung ist, auf Cyberattacken unter Umständen sogar mit Atomwaffen zu antworten. 

Einerseits ist das Thema Cyberangriff populär, andererseits scheinen es viele Leute nicht richtig ernst zu nehmen, weil dabei ja nur Daten, nicht Menschen zu schaden kämen. Das ist also falsch?

Arquilla: Vollkommen falsch, warum habe ich ja beschrieben. Dennoch stimmt Ihre Beobachtung. Und der Grund dafür ist, daß wir noch kein digitales Pearl Harbor erlebt haben. Danach würde es zweifellos ganz anders aussehen. Allerdings muß ich sagen, daß Pearl Harbor eigentlich ein falscher Vergleich ist. Das liegt daran, daß die Leute mit diesem Ereignis ein falsches Bild verbinden. Für die meisten steht Pearl Harbor nämlich einfach für einen heimtückischen Angriff aus dem Nichts. Das ist aber nicht das, was das reale Ereignis am 7. Dezember 1941 so gefährlich gemacht hat. Gefährlich war es nicht wegen des Angriffs an sich, sondern weil der Überfall der Japaner darauf zielte, die amerikanische Verteidigungsfähigkeit, in Gestalt der US-Pazifikflotte, mit einem Schlag auszuschalten. Und da sind wir wieder beim Thema Cyberkrieg.

Inwiefern?

Arquilla: Na, weil wir bei dem Thema etwa fürchten, daß die Russen bei uns politische Kriegsführung praktizieren, also öffentliche Desinformation und Meinungsmanipulation. Oder daß die Chinesen uns auf diesem Wege Know-How stehlen. Alles keine kleinen Gefahren – aber was sie uns vergessen lassen ist, daß die eigentliche Bedrohung weder von russischen Trollfabriken noch chinesischen Datendieben ausgeht, sondern davon, daß Russen und Chinesen in Sachen klassischer Cyberkrieg, also digitale Gefechtsfeldführung, massiv aufgerüstet haben! Während wir, die USA, und ihr, unsere Nato-Partner, dies unter anderem wegen unserer Fixierung auf den Cyberkrieg im Netz eklatant vernachlässigen!

Wie gefährlich ist das?

Arquilla: Ich halte das für eine enorme Bedrohung, die mir größte Sorgen bereitet. Denn wenn es dem Gegner gelänge, was die Japaner damals versuchten, aber nicht schafften, mit einem Schlag unsere Verteidigungsfähigkeit auszuschalten, indem sie unsere digitalen Führungssysteme effektiv stören, möchte ich nicht wissen, wie ein bewaffneter Konflikt etwa auf der Koreanischen Halbinsel oder im Südchinesischen Meer ausgeht. Dann wären wir in der Situation, in der sich die Iraker damals uns gegenüber befunden haben. Und das würde sich wohl als eine Katastrophe erweisen, die die Welt, wie wir sie kennen, in ungeahntem Ausmaß destabilisieren würde.  






Prof. Dr. John Arquilla, war zunächst Analyst der RAND-Corporation, bevor er 1993 an die Schule der US-Kriegsmarine in Monterey wechselte. Er war Berater des US-Oberkommandierenden während des ersten Irakkrieges 1991, General Norman Schwarzkopf, später von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und der Regierung Präsident Barack Obamas. Er schrieb Gastbeiträge für die New York Times, The Economist, Times, Forbes sowie zahlreiche weitere Zeitungen und Zeitschriften und verfaßte etliche Bücher, darunter „Networks and Netwars. The Future of Terror, Crime and Militancy“ (2001), „Information Strategy and Warfare“ (2007) oder „Insurgents, Raiders and Bandits. How Masters of Irregular Warfare Have Shaped Our World“ (2011). Geboren wurde der Experte für strategische Verteidigung 1954 in Oak Park/Illinois.

Foto: Soldat der Zukunft, digitale Daten: „Heute denkt beim Wort Cyberkrieg jeder an Kriegsführung im Internet, also im sogenannten Cyberspace. Das aber ist falsch. Sie unterliegen damit einem typischen Mißverständnis ... Natürlich spielen Hacken, ‘Cybertage’ und Desinformation eine Rolle. Aber durch unsere Fixierung darauf sehen wir nicht, was eigentlich die Gefahr ist“ 

 

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