© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/19 / 08. März 2019

Ländersache: Nordrhein-Westfalen
„Noch schlimmer, als ich befürchtet habe“
Karsten Mark

Am äußersten Ostrand Nordrhein-Westfalens entwickelt sich zur Zeit ein Polizeiskandal von immer größeren Ausmaßen. Zwei Männer aus der lippischen Kleinstadt Lügde sowie dem benachbarten Steinheim sollen für den sexuellen Mißbrauch von mindesten 30 Kindern zwischen vier und 13 Jahren sowie einem geistig behinderten Jungen von 19 Jahren verantwortlich sein. Ein weiterer Mann wird als Auftraggeber für Videoaufnahmen der Taten beschuldigt. Die Staatsanwaltschaft in Detmold geht von mehr als 1.000 Einzeltaten aus. Nach bisherigem Ermittlungsstand reicht der Kindesmißbrauch über mindestens 17 Jahre zurück. Dabei war ein erster Verdacht gegen den Haupttäter Andreas V., einen 56jährigen Dauercamper, bereits 2002 der Polizei bekannt. 

Sonderermittler des Landeskriminalamts, die NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) Mitte Februar in den Kreis Lippe entsandte, fanden in der örtlichen Polizeibehörde eine tabellarische Übersicht mit Hinweisen auf Sexualdelikte aus dem Jahr 2002. Andreas V. taucht darauf namentlich mit dem Verdacht auf, ein achtjähriges Mädchen vergewaltigt zu haben. Doch weitere Akten gibt es nicht. Offenbar wurde der Verdacht nicht weiter verfolgt. Auch auf der Tabelle für 2008 taucht V. mit dem Verdacht auf Kindesmißbrauch auf. Wieder gibt es keine weiteren Akten. Wie die Behörden mit Hinweisen aus der Bevölkerung umgingen, schilderte ein Zeuge aus dem benachbarten Bad Pyrmont (Nieder-sachsen) gegenüber der Lippischen Landeszeitung. Er hatte V. 2016 bei Polizei und Jugendamt angezeigt, weil der seine beiden kleinen Töchter unsittlich angefaßt hatte. „Er war ganz offensichtlich pädophil, hat immer wieder kleine Kinder berührt“, schilderte er der LZ. Erst nach einigen Wochen habe sich das Jugendamt wieder bei ihm gemeldet. „Sie sicherten mir zu, daß beim Dauercamper alles in Ordnung sei. Ich solle vorsichtig sein mit meinen Äußerungen, da ich auch wegen Rufmordes und übler Nachrede angezeigt werden könnte.“ 

Auch als eine Mitarbeiterin des Jobcenters der Polizei meldet, der arbeitslose V. habe in einem Gespräch einen Kindesmißbrauch angedeutet, gibt die Polizei den Fall lediglich ans Jugendamt weiter. Im gleich Jahr erteilt das benachbarte Jugendamt in Bad Pyrmont dem Mann die Pflegschaft für ein vier Jahre altes Mädchen, das seither bei ihm auf dem Campingplatz wohnte. Erst im vergangenen Oktober wird die Polizeibehörde im Kreis Lippe tätig, als die Mutter einer Neunjährigen die Vergewaltigung ihrer Tochter sowie der Pflegetochter bei der Polizei in Bad Pyrmont anzeigt. Anfang Dezember beschlagnahmt die Polizei große Mengen an Datenträgern bei dem Beschuldigten. Ende Januar sind 155 CDs und DVDs davon aus dem Räumen der Polizei Lippe verschwunden. Ein Kommissaranwärter hatte das Material gesichtet, kann sich jedoch nicht mehr daran erinnern, wer ihn damit beauftragt hat.

Innenminister Reul informierte den Innenausschuß des Landtags und äußerte öffentlich: „Es ist noch schlimmer, als ich befürchtet habe.“ Über Monate, vielleicht sogar Jahre sei offensichtlich schlampig gearbeitet worden. Der lippische Kripo-Chef Wolfgang Pader wurde suspendiert, Polizeichef Bernd Stienkemeier versetzt. Landrat Axel Lehmann (SPD), der die Verantwortung für die Polizeibehörde trägt, hat Rücktrittsforderungen zurückgewiesen.