© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/19 / 08. März 2019

Spiel mit dem Feuer
Auseinandersetzungen zwischen Islamabad und Neu-Delhi: Der Ausbruch des Kaschmirkonflikts ist für Indiens Premier eine Steilvorlage
Marc Zoellner

Die trügerische Ruhe hielt kaum zwei Tage an: Erneut lieferten sich am Montag indische und pakistanische Truppen in der Nähe der Kleinstadt Akhnoor an der umstrittenen Demarkationslinie Westkaschmirs heftige Scharmützel, nachdem seit Freitag die Waffen geschwiegen hatten. In einer „grundlosen Verletzung des Waffenstillstands“, erklärte ein Sprecher der indischen Armee, hätten pakistanische Soldaten mit Mörsern und Gewehren auf Dörfer geschossen, die im indischen Teil der Provinz lägen. „Die indische Armee“, so der Militärsprecher, hat jedoch „nachhaltig und effektiv Vergeltung geübt.“ Zeitgleich herrschte auch im flächengrößten indischen Bundesstaat Rajasthan Alarmstimmung, als mehrere indische Suchoi-Kampfflieger zum Einsatz kommandiert wurden, um eine pakistanische Drohne abzufangen, die unerlaubt in den indischen Luftraum eingedrungen war.

Radikalislamisten in Pakistan sorgen für Unmut 

Die jüngsten Vorfälle stellen für die Regierung in Neu-Delhi einen besonderen Affront dar: Immerhin hatte Pakistan noch in der Vorwoche auf die strikte Einhaltung seines Hoheitsbereiches im Luftraum Westkaschmirs beharrt und zur Demonstration seiner Abwehrbereitschaft zwei indische Jagdflugzeuge abgeschossen. Dieser Vorfall hatte bei der internationalen Staatengemeinschaft große Besorgnis um den Ausbruch eines neuen Krieges zwischen den beiden Atommächten hervorgerufen. Der Waffenstillstand vom Wochenende wurde von daher von den im Konflikt vermittelnden Großmächten Rußland, China sowie Großbritannien als einstiger Kolonialmacht einhellig begrüßt.

 Mit dem neuerlichen Aufflammen der Kampfhandlungen zu Wochenbeginn bewiesen beide Seiten jedoch, an einer Schadensbegrenzung nur bedingt Interesse zu haben. Gerade für Indiens Premier Narendra Modi scheinen die neuen Funken am kaschmirischen Pulverfaß zur rechten Zeit zu kommen.

Bereits seit der Unabhängigkeit Pakistans von Indien im Jahre 1947 ist Kaschmir zwischen den angrenzenden Großmächten dreigeteilt: Damals hatte Hari Singh, der letzte amtierende Maharadscha Kaschmirs, sein Königreich dem indischen Staat zugesprochen. Es war der Auslöser des ersten von insgesamt drei Kaschmirkriegen, in dessen Verlauf Pakistan den Westen und Norden der Provinz, Indien wiederum das zentral gelegene Kaschmir-Tal sowie die östliche Region Ladakh für sich reklamieren konnte. Seit 1950 hält China überdies das Hochland von Aksai Chin im Osten Kaschmirs besetzt. Seitdem betrachten Pakistan und China sich als Verbündete im Kaschmirkonflikt; ihre gemeinsamen Rüstungsanstrengungen an der Grenze zu Indien stellen für Neu-Delhi eine ernstzunehmende Gefahr dar, insbesondere was die Vorherrschaft zu Luft in dem extrem zerklüfteten, von verschneiten Hochgebirgszügen und fruchtbaren tiefen Tälern geprägten Terrain betrifft.

Jammu und Kaschmir, so die offizielle Bezeichnung des indischen Teils der Region, stellt für Indien eine insbesondere landwirtschaftlich bedeutsame Einnahmequelle dar. Seit der Teilung von 1947 fordert der muslimisch geprägte Großteil der Bevölkerung jedoch ein Referendum um die Unabhängigkeit Kaschmirs von Indien. Die aufgeladene Stimmung in der Provinz nutzen radikalislamische Gruppen, die von Neu-Delhi verdächtigt werden, vom pakistanischen Militärgeheimdienst ISI finanziell unterstützt zu werden, für Terroranschläge gegen indische Institutionen. Zuletzt am 14. Februar dieses Jahres sprengte sich ein Selbstmordattentäter der extremistischen „Jaish-e Mohammed“ in der indisch-kaschmirischen Kleinstadt Awantipur in die Luft und tötete dabei 48 Soldaten. Als Vergeltung flogen indische Kampfjets zwölf Tage später Angriffe auf ein Ausbildungslager der Extremisten unweit der pakistanischen Stadt Balakot. „Regelmäßig haben wir der pakistanischen Regierung Hinweise auf die Lage solcher Ausbildungscamps auf pakistanischem Gebiet zukommen lassen“, rechtfertigte Indiens Außenminister Vijay Gokhale den ersten Einsatz indischer Kampfflugzeuge gegen den Nachbarstaat seit 1971. „Doch Pakistan leugnet deren Existenz. Das Betreiben solch gewaltiger Trainingsanlagen, die in der Lage sind, Hunderte Dschihadisten auszubilden, könnte jedoch nie ohne das Wissen pakistanischer Behörden funktionieren.“

„Wir haben nach dem Anschlag [von Awantipur] Untersuchungen angeboten“, erwehrt sich Pakistans Premier Imran Khan auf Twitter der indischen Vorwürfe. „Wenn ihr Gespräche über Terrorismus wollt, sind wir bereit.“ Gleichwohl – daß die ISI in Pakistan als Staat im Staate fungiert und ebenso freundschaftliche Kontakte zu den afghanischen Taliban sowie zu al-Qaida pflegt, gilt als offenes Geheimnis. Der jüngste Ausbruch des Kaschmirkonflikts ist für Khans indischen Amtskollegen Modi eine Steilvorlage, sich außenpolitisch noch einmal zu profilieren.

Parlamentswahl in Indien wirft ihre Schatten voraus

Denn bereits Ende April finden in Indien Parlamentswahlen statt. Bislang hält Modis hindunationalistische „Bharatiya Janata Party“ (BJP) dort eine knappe Mehrheit von 278 Sitzen; fünf mehr als benötigt. Neuere Umfragen jedoch deuten auf einen Erdrutscherfolg des Wahlbündnisses um den säkularen „Indischen Nationalkongreß“ (INC) hin, welches seine derzeitigen 64 Sitze um bis zu einhundert Abgeordnete stärken und der BJP somit die absolute Mehrheit nehmen könnte. Angesichts der zahllosen Opfer, welche die Terroranschläge pakistanischer Extremisten unter indischen Soldaten wie Zivilisten allein in den vergangenen zwei Jahrzehnten gefordert haben, dürfte Modis Rhetorik des Säbelrasselns, so das Kalkül der BJP, gerade bei unentschlossenen Wählern auf Wohlwollen stoßen. So zeigt sich ein erster Erfolg der Modi-Kampagne #IndiaStrikesBack als Erfolg und ist bereits jetzt populärster Trendsetter in den sozialen Medien des Subkontinents.