© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/19 / 08. März 2019

Talent zur Freundschaft
Vom Niedergang Deutschlands: Ein Nachruf auf den Politikwissenschaftler und Historiker Arnulf Baring
Konrad Adam

Das öffentliche Leben braucht beide, den handelnden Politiker und den politischen Beobachter. Um ihre Unabhängigkeit zu wahren, müssen beide auf Abstand halten; doch dieser Abstand ist im Laufe der Jahre immer kleiner geworden. Die Parteien haben gelernt, daß es sich lohnt, die Medien an die kurze Leine zu nehmen; die Medien machen mit und zeigen sich erkenntlich, indem sie den Politikern nach dem Munde reden. Arnulf Baring, der am vergangenen Samstag, 86 Jahre alt, in Berlin gestorben ist, kannte beide Seiten des politischen Geschäfts, bestand jedoch auf Unabhängigkeit und Abstand. Lange bevor die Teilhabe als Kardinaltugend der Zivilgesellschaft ausgerufen und von Kanzeln und Kathedern verkündigt wurde, war er das Muster eines engagierten Bürgers.

Er paßte in keine der üblichen Schablonen. Mit gleichem Recht konnte man ihn als Juristen oder Historiker, als Politologen oder  Journalisten bezeichnen. Er war das alles und noch ein bißchen mehr, denn gut schreiben konnte er auch. So wurde er zum Verfasser eines Buches über die Hintergründe, Umstände und Folgen des  Machtwechsels, der seinerzeit, vor mehr als fünfzig Jahren, die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt und Walter Scheel an die Regierung brachte und die Unionsparteien in die Opposition zwang.

Das Buch gilt als ein Standardwerk der Zeitgeschichte, es erlebte zahlreiche Auflagen und machte Baring zu einer Person des öffentlichen Lebens. Neben Beobachtungsgabe und Urteilsvermögen läßt es seine liebenswerteste Eigenschaft erkennen, sein lebhaftes Interesse an den Menschen, an ihren Stärken, Schrullen und Schwächen. Er verstand sich auf die Kunst, Politik lebendig zu machen, lebendiger vielleicht, als sie tatsächlich ist. „Wo kommt er her, was hat er vor, wo will er hin?“: Das waren die Fragen, unter denen er den Motiven der Politiker nachspürte, sie zu verstehen und darzustellen suchte.

Baring verband die Nüchternheit des Beobachters mit der Leidenschaft des Handelnden. Wer ihn kannte, erinnert sich an sein Talent, Vertrauen dadurch zu erwerben, daß er Vertrauen schenkte. Willy Brandt hat ihm die Tagebücher, in denen er über die Hintergründe seines Sturzes berichtet, zwar nicht überlassen, ihm aber immerhin aus ihnen vorgelesen. So ist es Baring gelungen, Walter Scheels hochgespannte Erwartungen zu erfüllen und mit seinem Buch über den Machtwechsel etwas zustande zu bringen, „was bleibt“.

Brandt und Adenauer waren für Baring die beiden prägenden Figuren der Nachkriegszeit. Keiner der Nachfolger konnte ihnen das Wasser reichen, auch Helmut Schmidt nicht, bei dem er das große Design vermißte; Gerhard Schröder, dem er die Konfrontation mit der amerikanischen Schutzmacht verübelte, schon gar nicht. In Barings  Augen war Politik zunächst und vor allem Außenpolitik; auch für das wiedervereinigte Deutschland blieb das westliche Bündnis Garant seiner Sicherheit. Deutsche und Amerikaner hätten gemeinsame Interessen, meinte er, nicht nur in Europa, sondern überall auf der Welt.

Seine kompromißlose Haltung brachte ihn auf Distanz zur SPD, der er lange Zeit als Mitglied angehört hatte. Als er aus Gründen der Staatsraison zur Wahl von Genscher und seiner FDP aufrief, setzte ihn die SPD vor die Tür. Baring hat das gelassen hingenommen, genauso gelassen, wie er Thilo Sarrazin verteidigte, dem einige Zeit später das gleiche Schicksal zu widerfahren drohte. Die Meinungsfreiheit ging ihm über alles, und damit meinte er nicht nur Freiheit für seine eigene Meinung, sondern für die aller anderen auch. Als die JUNGE FREIHEIT aus politisch korrekt verlogenen Gründen 2006 von der Leipziger Buchmesse ausgeschlossen werden sollte, gehörte Baring zu denen, die laut und kräftig protestierten.

Am lautesten tat er das in einem Beitrag, der unter der Überschrift „Bürger, auf die Barrikaden!“ im November 2002 im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist: eine wütende  Kampfansage an die Volksbeglückungspolitik der rot-grünen Bundesregierung. Die Lage, meinte Baring, sei reif für einen Aufstand gegen eine drohnenhafte Herrschaftskaste, die das eigene Überleben wichtiger nimmt als die Zukunft des Landes. O-Ton Baring: „Es festigt sich im Lande die Überzeugung, daß unser Parteiensystem, in welcher Farbkombination auch immer, den heutigen Herausforderungen in keiner Weise gewachsen ist und daher von der Krise verschlungen werden wird, wenn es nicht die Kraft zur durchgreifenden Erneuerung findet. Wenn unsere Parteien weder programmatisch noch personell in der Lage sind, die Bevölkerung mit klaren Alternativen zu konfrontieren und damit Richtungsentscheidungen zu erzwingen, ist diese Republik am Ende.“

Das war vor mehr als fünfzehn Jahren; was hätte er heute zu einer Partei gesagt, die eine vernichtende Wahlniederlage mit der Forderung beantwortet, die staatlichen Zuschüsse an den Parteibetrieb noch einmal kräftig zu erhöhen. Und die mit diesem schamlosen Ansinnen bei ihrem Koalitionspartner auch noch durchkommt, weil der vom neuen Geldsegen genauso profitiert wie alle anderen Parteien.

Mit der Zeit verschob sich das Interesse Barings von der Außen- zur Innenpolitik. Die Leisetreterei der etablierten Parteien, ihre Selbstgefälligkeit, ihre unverhohlene Verachtung des Wählers, den sie als Störenfried betrachteten und ganz bewußt düpierten, empörte ihn, und er beklagte die Unfähigkeit der Deutschen, aus der Geschichte zu lernen und politisch endlich einmal Glück zu haben. In Anlehnung an seinen Freund Raymond Aron, der ein ganzes Buch über die europäische Dekadenz geschrieben hatte, sprach Baring immer häufiger vom „German decline“, vom Niedergang Deutschlands.

Ihm war und blieb unbegreiflich, wie sich ein ganzes Volk einreden lassen konnte, daß es an der Zeit sei, Macht durch Moral, besser gesagt: durch Moralisieren zu ersetzen. Entgeistert berichtete er von einem Treffen internationaler Kapazitäten in St. Petersburg, wo die Vertreter sämtlicher Staaten auf die Frage nach ihren nationalen Interessen bereitwillig Auskunft gegeben hätten; nur die Deutschen nicht. Sie hätten sich, und zwar ausnahmslos, darauf versteift, daß es deutsche Interessen nicht mehr gebe, weil die mit europäischen Interessen – wer definierte die? – zusammenfielen. Für so viel Naivität fehlte ihm das Verständnis.

Nach solchen Erfahrungen sprach Baring nicht mehr vom europäischen Projekt, sondern von einer europäischen Chimäre. Die Deutschen könnten eines Tages vor der Alternative stehen, entweder einer politischen Radikalisierung in den Mitgliedsländern tatenlos zuzusehen „mit allen damit verbundenen Gefahren für den Freihandel und den damit wiederum einhergehenden Risiken für den Fortbestand der Gemeinschaft“, oder aber die innenpolitischen Spannungen in den betroffenen Mitgliedsländern durch üppige Transferzahlungen abzumildern: ziemlich genau das, was den Vorkämpfern der Union in Ungarn, Polen, Italien zu schaffen macht und was die Engländer dazu bestimmt haben mag, die Gemeinschaft zu verlassen.

Natürlich hoffte er wie alle ehrenhaften Unglückspropheten, am Ende Unrecht zu behalten. Sein Buch mit dem skeptischen Titel „Scheitert Deutschland?“ (1997) schließt mit dem Wunsch, daß sich die vorgetragenen Sorgen schon bald als stark übertrieben, vielleicht sogar als grundlos erweisen möchten. Spes contra spem, Hoffnung wider die Hoffnung, nannte man das früher.

Wenn er trotzdem die Hoffnung nicht fahren ließ, dann im Blick auf die vielen jungen Leute, die er als akademischer Lehrer um sich versammelt und geprägt hatte. Als Lehrer war Baring anders als die  anderen, immer neugierig, meistens konziliant, offen für alles außer der blanken, parteikonformen Dummheit. Seine Schüler trifft man überall, an der Universität, in der Publizistik, sogar in den Parteien. Baring durfte für sich in Anspruch nehmen, nicht nur ein Werk, sondern auch eine Schule hinterlassen zu haben. „Von euch wird abhängen, was aus diesem Land einmal wird“, pflegte er seinen Studenten zuzurufen. Baring besaß das seltene Talent zur Freundschaft, und so, als Freund, wird er uns im Gedächtnis bleiben.






Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, war Feuilletonredakteur der FAZ und Chefkorrespondent der Welt. Adam gründete die Alternative für Deutschland mit und war bis Juli 2015 einer von drei Bundessprechern.