© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/19 / 08. März 2019

Mißverständnis im Intershop
Das Buch aus der Truhe: Günter Kunert veröffentlicht seinen wiedergefundenen Roman „Die zweite Frau“
Jörg Bernhard Bilke

Die Geschichte dieses Buches erinnert entfernt an die des Briefromans „Tagebuch des Verführers“ (1843) von Sören Kierkegaard, dessen Manuskript der Autor im Geheimfach eines Schreibtischs gefunden haben wollte. Der Schriftsteller Günter Kunert der am Mittwoch dieser Woche seinen 90. Geburtstag feiern konnte, hat das Manuskript seines zweiten Romans, „Die zweite Frau“, in den Jahren 1974/75 verfaßt, als er noch in Ost-Berlin lebte. Weil er wußte, daß ein solcher Text niemals von einem DDR-Verlag veröffentlicht werden würde, vergrub er ihn in einer Truhe und vergaß ihn dort.

1976 gehörte er zu den Erstunterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann. Mit der Übersiedlung Kunerts, der den DDR-Behörden lästig geworden war, kam im Herbst 1979 auch die Truhe mit dem Manuskript nach Schleswig-Holstein, wo er seitdem in einer ehmaligen Schule lebt.

Die Staatssicherheit steht vor der Tür

Der Held des Romans heißt Barthold, der in seinem Garten auf dem Liegestuhl, zugedeckt mit der SED-Zeitung Neues Deutschland, dem „Zentralorgan“, eingeschlafen ist und davon träumt, wie er während des Krieges in einem Londoner Luftschutzkeller Walter Ulbricht trifft. Der Lärm der ringsum einschlagenden Bomben rührt aber von den Axthieben seiner Frau, die mit wuchtigen Schlägen den Schuppen im Garten zertrümmert und dabei einen vermoderten Büstenhalter findet, weshalb sie ihrem Mann Ehebruch vorwirft.

Barthold, der Nachname wird nie genannt, zehn Jahre älter als seine Frau Margarete Helene, die in wenigen Tagen ihren 40. Geburtstag feiert, ist von Beruf Prähistoriker in einem Institut, zur Zeit aber wegen vegetativer Dystonie krankgeschrieben. Er braucht ein passendes Geburtstagsgeschenk, hat jedoch keine Idee und in den Geschäften gibt es ohnehin nur, „was man weder sucht, noch braucht“. Schließlich führt ihn seine Suche in den Intershop, einen der neuralgischen Punkte der DDR-Gesellschaft, der das Volk in zwei Klassen spaltet: in die wenigen Leute mit Westgeld und in die breite Masse ohne! Er reiht sich ein in die Doppelschlange der Westwarensüchtigen, die nur langsam vorankommt. Dabei beobachtet er eine alte Dame, die ihrer Enkelin ein Fläschchen Parfum kaufen und dann an der Kasse, nicht eingeweiht in die DDR-Gepflogenheiten, mit hier ungültigem Ostgeld bezahlen möchte. Kopfschüttelnd verläßt sie die kapitalistische Oase inmitten der sozialistischen Wüste, nachdem die Verkäuferin ihr mehrmals, mit wachsender Lautstärke, erklärt hat: „Dieses Geld nehmen wir nicht!“

Über das Verhalten der alten Dame kommt Barthold ins Gespräch mit einem anderen Besucher und zitiert aus Michel de Montaignes „Essais“ (1572/92), die auf seinem Nachttisch liegen, nicht ahnend, daß seine kritischen Gedanken der DDR-Staatssicherheit übermittelt werden, die in der Normannenstraße im Ost-Berliner Stadtteil Lichtenberg über ein eigenes Ministerium mit 96.000 hauptamtlichen Mitarbeitern verfügt. Wenige Tage später steht einer dieser von unentwegtem Klassenkampf erfüllten Mitarbeiter vor Bartholds Haustür und begehrt, den Hausherrn zu sprechen, der aber abwesend ist. Margarete Helene empfindet nach diesem kurzen Besuch, von dem sie Barthold nichts erzählt, abgrundtiefe Angst. In ihren nächtlichen Träumen ist er zu 15 Jahren Haft verurteilt worden. In Abständen besucht sie ihn in der Strafanstalt: „Am Sprechtisch hockt ein weißhaariger Greis, erstorbener Blick, die Unterlippe hängend, aus einem Mundwinkel rinnt Speichel.“

Dann aber erweist sich der „staatsfeindliche“ Vorgang, um den es hier geht, als ganz harmlos, wie es scheint, nur als ein Produkt der Überwachsamkeit der Geheimpolizei, die überall subversive Aktionen wittert. Sie sucht nach einem Ausländer, von dem Barthold im Intershop erzählt hat, als er für seine Frau einen Ring kaufte, einem Franzosen offensichtlich namens Mohnteine.

Das alles ist höchst vergnüglich erzählt! Man merkt dem Schriftsteller Günter Kunert an, welche Lust es ihm bereitete, eine Alltagsgeschichte zu erzählen, die von Politik überschattet ist. Es ist freilich nicht nur ein politischer Roman, sondern, zumindest partiell, auch ein Ehe- und ein Kriminalroman, der mit erstaunlichen Sexszenen angereichert ist. Über die allgegenwärtige DDR-Staatssicherheit, die jeden Bürger, wenn sie nur will, verhaften könnte, denn „Illegales“ findet sich immer, gibt es treffliche Sätze wie folgenden: „Einerseits zwar war dieser Feind unendlich schwach, so daß er Entscheidendes nicht auszurichten vermochte, andererseits jedoch erwies er sich wiederum als unendlich stark, so daß es der Aufbietung aller verfügbaren Kräfte bedurfte, um dieser Stärke zu widerstehen.“

Günter Kunert: Die zweite Frau. Roman. Wallstein-Verlag, Göttingen 2019, gebunden, 202 Seiten, 20 Euro