© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/19 / 08. März 2019

Er wollte die Freiheit des Einzelnen schützen
Staat, Demokratie, Nation: An diesem Samstag findet die Trauerfeier für den verstorbenen Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde statt
Dietrich Murswiek

Unter den deutschen Staatsrechtlern der zweiten Hälfte des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts nimmt Ernst-Wolfgang Böckenförde eine herausragende Position ein. Ob er der Wirkmächtigste war, läßt sich schwer einschätzen. Aber er ragte heraus in der Klarheit seiner Argumentation, in der intellektuellen Brillanz seiner Abhandlungen, in der Geschliffenheit der juristi-schen Dogmatik, die er entfaltete und in der historischen und philosophischen Fundierung seines juristischen Denkens.

Und er war einer derjenigen, die die Bezeichnung „Staatsrechtslehrer“ noch damit rechtfertigen können, daß sie ihr Nachdenken über Verfassung und Recht nicht nur als Paragraphenwissenschaft betreiben, sondern in stetigem Rückbezug auf die realen Existenzbedingungen des Staates. Am 24. Februar ist Böckenförde im Alter von 88 Jahren gestorben. Die Trauerfeier für ihn findet an diesem Samstag im badischen Merzhausen statt.

Böckenförde stammt aus einer kinderreichen Försterfamilie. In seinem Wohnhaus in Au bei Freiburg prangen noch Trophäen von Hirschen, die sein Vater erlegt hat. Er selbst war kein Naturmensch. Er hat die Welt vom Schreibtisch aus durchdrungen. Nach einem Doppelstudium der Rechtswissenschaft und Geschichte in Münster und München, juristischer und geschichtswissenschaftlicher Promotion sowie Habilitation mit einer Arbeit über „Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung“ wurde er Professor für Öffentliches Recht, Verfassungs- und Rechtsgeschichte sowie Rechtsphilosophie an den Universitäten Heidelberg (1964–1969), Bielefeld (1969–1977) und Freiburg im Breisgau (1977–1995). Außerdem war er von 1983 bis 1996 Richter am Bundesverfassungsgericht, wo er an vielen wegweisenden Entscheidungen mitwirkte, beispielsweise zum Schwangerschaftsabbruch, zum Asylrecht oder zur Parteienfinanzierung – nicht selten auch mit einem dissentierenden Sondervotum. 

Böckenfördes wissenschaftliches Werk ist vielfältig. Abgesehen von den vielen Schriften zum Kirchenrecht hat es Schwerpunkte im Staatsorganisationsrecht, in der Grundrechtsdogmatik, in der Verfassungstheorie, der Staatsphilosophie und der Verfassungsgeschichte. Seine wichtigsten Aufsätze sind in fünf Suhrkamp-Taschenbüchern versammelt, die auch Nichtjuristen empfohlen werden können (Staat – Gesellschaft – Freiheit, 1976; Staat – Verfassung – Demokratie, 1991; Recht – Staat – Freiheit, 1991; Staat – Nation – Europa, 1999; Wissenschaft – Politik – Verfassungsgericht, 2011). Der letztgenannte Band enthält auch ein ausführliches biographisches Interview.

Böckenfördes Arbeiten zu den Grundrechten zeichnen sich durch das Bestreben aus, anhand klarer rechtsstaatlicher Kriterien die Freiheit des Einzelnen zu schützen. Versuchen, das liberale Grundrechtsverständnis durch eine sozialstaatliche Grundrechtsinterpretation abzulösen, trat er entschieden entgegen. Dabei war er als Sozialdemokrat ein entschiedener Anwalt des Sozialstaats. Er thematisierte die ökonomischen und sozialen Bedingungen der Freiheitsverwirklichung. Nach seiner Auffassung ist es eine notwendige Aufgabe des Staates, die realen Voraussetzungen individueller Freiheitsverwirklichung sozialstaatlich abzusichern. Beispielsweise nützt die grundrechtlich geschützte Freiheit, an einer Universität zu studieren, demjenigen nicht viel, dessen Eltern das Studium nicht finanzieren können – wenn nicht der Staat zum Beispiel durch Stipendien hilft.

Raum für politische Gestaltungsentscheidungen

Aber die Verwirklichung des Sozialstaats ist nach seiner Auffassung Sache des Gesetzgebers. Wer dafür plädiert, aus den Grundrechten soziale Leistungsansprüche abzuleiten, macht damit die Verfassungsrichter zu Sozialpolitikern. Böckenförde wollte demgegenüber die Verfassung als Rahmen-

ordnung verstehen, innerhalb derer Raum für politische Gestaltungsentscheidungen ist, die demokratischer Legitimation durch Wähler und Parlament bedürfen. Das Verständnis der Verfassung als „Wertsystem“, das Böckenförde ablehnte, verführt hingegen dazu, Politik als Verwirklichung von Verfassungswerten zu betrachten – mit der Folge einer ständig sich ausdehnenden Richtermacht und immer engerer Einschnürung der Gestaltungsmöglichkeiten der demokratisch gewählten Staatsorgane.

Zu Böckenfördes größten wissenschaftlichen Leistungen gehören sicherlich seine Arbeiten zur Demokratie-theorie und zu den rechtlichen Kriterien demokratischer Legitimation. Wohl kein Jurist in der Bundesrepublik Deutschland hat darüber so gründlich geschrieben wie Böckenförde, und wohl keiner dürfte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in dieser Hinsicht so sehr beeinflußt haben wie er. Wie kein anderer hat er mit bestechender Logik herausgearbeitet, unter welchen Voraussetzungen die Staatsgewalt „vom Volke ausgeht“, wie das Grundgesetz es fordert.

Er postulierte eine „relative Homogenität“ 

Wie bedeutsam seine diesbezüglichen Arbeiten für unser Gemeinwesen sind, kann man nur ermessen, wenn man sich anschaut, welche Gegenpositionen in der Politikwissenschaft, aber zum Teil auch in der Rechtswissenschaft vertreten werden – insbesondere die Position, daß die Legitimation von den jeweils „Betroffenen“ ausgehen solle. Praktisch bedeutsam wurde Böckenfördes Argumentation vor allem, als das Bundesverfassungsgericht über Gesetze in Schleswig-Holstein und in Hamburg zu entscheiden hatte, die das Kommunalwahlrecht auch Ausländern gewähren wollten. Das Bundesverfassungsgericht erklärte unter maßgeblichem Einfluß Böckenfördes diese Gesetze für verfassungswidrig.

Böckenfördes Interessen beschränkten sich nie auf die Auslegung der Verfassung. Immer richtete sich sein Erkenntnisinteresse auch auf die historischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Voraussetzungen von Staat und Demokratie. Sein berühmtester Satz lautet: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Dieses tausendfach zitierte „Böckenförde-Diktum“ ist so beliebt, weil erstens jeder zustimmen kann, zweitens offenbleibt, was diese Voraussetzungen konkret sind, und weil es drittens für den Fall, daß die Voraussetzungen erodieren, eine Entschuldigung für achselzuckende Untätigkeit zu bieten scheint.

Aber so war der Satz nicht gemeint. Zwar kann der freiheitliche, demokratische Staat ein positives Verfassungsbewußtsein nicht erzwingen, auch nicht die Vitalität der kulturellen Grundlagen, auf denen die freiheitliche Ordnung beruht. Aber er kann darauf einwirken, insbesondere mit seinem Bildungssystem. Und vor allem kann er es unterlassen, an der Beschädigung von Voraussetzungen von Demokratie, Rechtsstaat und innerem Frieden aktiv mitzuwirken.

Eine der Voraussetzungen dafür, daß eine freiheitliche Demokratie gut funktioniert, ist – das hat Böckenförde immer wieder betont – eine „relative Homogenität“ der Gesellschaft. Das Bundesverfassungsgericht ist ihm hierin im Maastricht-Urteil (1993) gefolgt. Wenn der historisch und kulturell geprägte Fundus an unhinterfragten Gemeinsamkeiten schwindet, auf die „ein gewisses Maß an Übereinstimmung im Selbstverständnis und der Art und Weise des Zusammenlebens“ sich stützt, dann, so Böckenförde, drohe sogar die „Grundbeziehung zwischen Schutz und Gehorsam, auf der sich Staatsloyalität und auch Patriotismus aufgebaut haben“, außer Funktion und der Staat als Friedenseinheit in Gefahr zu geraten.

Sein Plädoyer gegen die Aufnahme der Türkei als Mitglied in die EU ist eine Konsequenz dieses Denkansatzes. Was den Umgang mit in Deutschland lebenden Muslimen angeht, hat Böckenförde die Gleichheit ihrer Rechte einschließ-lich ihrer Religionsfreiheit betont. Andererseits hat er gefordert, solange der Islam die Religionsfreiheit anderer nicht vollständig akzeptiere und dem Staat die Verwirklichung der – islamisch verstandenen – göttlichen Ordnung als Aufgabe zuweise, müsse der Staat im Rahmen seiner Migrationspolitik dafür Sorge tragen, daß die Muslime in Deutschland in einer Minderheitenposition blieben; das sei eine Frage der Selbstverteidigung des freiheitlichen Verfassungsstaats.

Natürlich erinnert das Homogenitätspostulat an Carl Schmitt, der ja eine „substantielle Gleichheit“ als Grundlage der Demokratie angesehen hatte. Manche haben Böckenförde (und dem Bundesverfassungsgericht) dies vorgehalten und gemeint, schon mit dem Hinweis auf Schmitt dieses Postulat diskreditiert zu haben. Aber was immer zu Schmitts Theorie zu sagen ist: Böckenförde hat sie jedenfalls in einer mit dem liberalen Verfassungsstaat kompatiblen Weise rezipiert.

Er scheute sich nicht, von Carl Schmitt zu lernen

Was seine Nähe zu Carl Schmitt generell angeht, können manche Zeitungsschreiber nur abfällige Ratlosigkeit äußern: Sie bleibe ein Rätsel. Die Auflösung dieses Rätsels ist wohl, daß Böckenförde zwar als gläubiger Katholik von moralischen Grundsätzen durchdrungen, aber kein moralisierender Mensch war. Bei aller scharfen Kritik, die er am NS-Regime – und übrigens auch an der Kollaboration der katholischen Kirche mit den Nationalsozialisten – übte, scheute er sich nicht, von einem großen Staats- und Verfassungstheoretiker zu lernen, obwohl der sich dem NS-Regime angedient, während des Dritten Reiches schlimme Texte publiziert und schon in der Weimarer Zeit antiliberale Positionen eingenommen hatte. Das war Ausdruck geistiger Freiheit, wie Böckenförde sie verstand. Er hat sein Analyseinstrumentarium in der Beschäftigung mit Schmitt geschärft, ohne sich dabei mit Antiliberalismus zu infizieren. 

Deutschland verliert mit Ernst-Wolfgang Böckenförde einen großen Juristen und Staatstheoretiker. Daß sein Werk über seinen Tod hinaus seine Strahlkraft noch lange behalten möge, kann man unserem Land nur herzlich wünschen. Diejenigen, die von ihm gelernt haben, werden ihn in dankbarer Erinnerung behalten.






Prof. Dr. Dietrich Murswiek, Jahrgang 1948, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2016 als Nachfolger von Ernst-Wolfgang Böckenförde Staats- und Verwaltungsrecht an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br.

 www.dietrich-murswiek.de

Ernst-Wolfgang Böckenförde: Recht, Staat, Freiheit - Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Suhrkamp, Berlin 1991, broschiert, 425 Seiten, 19 Euro

Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie. Suhrkamp, Berlin 1999, broschiert, 290 Seiten, 14 Euro

Ernst-Wolfgang Böckenförde, Dieter Gosewinkel: Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht. Aufsätze von Ernst-Wolfgang Böckenförde. Biographisches Interview von Dieter Gosewinkel. Suhrkamp, Berlin 2011, broschiert, 492 Seiten, 24 Euro