© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/19 / 08. März 2019

Über die Schulter schauen
Attacken gegen das limitierte Denken: Neue Notizen von Peter Sloterdijk
Michael Dienstbier

Am 14. Oktober vorigen Jahres schrieb Michael Klonovsky in seinem Internet-Tagebuch Acta diurna: „Die Aristokratie bringt Aphorismen hervor, die Demokratie Parolen.“ So gesehen, können die folgenden Sentenzen nur aus der Feder eines wahren Geistesaristokraten stammen: „Man wehrt sich gegen völkerpsychologische Klischees so lange, bis man sieht, daß sie zutreffen.“ Oder auch: „Was ist Europa anderes als ein Festival von Pazifisten in einem Seniorenheim?“ Und schließlich: „Die Scheinprogressiven verstecken ihre Bedenken in der Zustimmung zum Trend.“

Unbändige Formulierungsfreude

Sie stammen von Peter Sloterdijk, der seine unter dem Titel „Neue Zeilen und Tage“ gesammelten Notizen von Mai 2011 bis September 2013 weder als Tagebuch noch als „Denk-Tagebuch“ oder „Arbeitsjournal“ verstanden wissen möchte – ereignisgeschichtlich eingerahmt durch die Tötung Osama bin Ladens und die Wahl zum 18. Bundestag –, sondern als Einladung zu einer „intellektuellen Komödie“. Dieser folgt man gern, zeichnet sich Deutschlands wohl publikationsaktivster Philosoph doch durch eine unbändige Formulierungsfreude aus, verbunden mit mal spöttisch, mal empört vorgetragenen Attacken gegen das in Europa dominierende limitierte Denken des Juste milieu.

Privates und Öffentliches, das große Ganze und Anekdotisches, Kulturelles und Politisches – Sloterdijk schreibt, kommentiert und urteilt munter drauflos, ohne sich in einem thematisch festgelegten Rahmen zu bewegen. Wasserstandsmeldungen seiner aktuellen Publikationen – zum Beispiel die abschließenden Arbeiten am ersten Band von „Zeilen und Tage: 2008–2011“ – stehen neben Kurzkommentaren einer aktuellen Etappe der Tour de France; auf Überlegungen zum Unsinn der sogenannten Eurorettung folgen ausführliche Eindrücke seiner Malraux-Lektüre.

Ein Höhepunkt ist Sloterdijks gnadenloses Urteil über den damaligen Präsidentschaftskandidaten der Sozialisten François Hollande, dem er knapp zwei Monate vor der Wahl persönlich begegnete: „Ein denkendes Gegenüber wurde im Gespräch nicht erkennbar“, notiert er vernichtend, um ihn am Tag nach der entscheidenden Stichwahl im Mai 2012 als „einen müden Mann, der zum Verlieren geboren schien“ abzukanzeln. Eine sicherlich auch heute noch zutreffende Einschätzung.

Sloterdijk ist kein Elfenbeinturmphilosoph, für den alles Bestehende nur den unreinen und somit zu ignorierenden Ausfluß einer strahlenden Idee darstellt. Immer wieder attackiert er das Brüsseler „schuldenbasierte semi-sozialistische Regime“, um den Zustand der real existierenden „EUdSSR“ zu beklagen. Angela Merkel charakterisiert er als „Große Mutter der Entpolitisierung“, die stets ihr „alternativloses Lächeln, das einem permanenten Schlußwort gleichkommt“ zum schlechtesten gibt.

Gefühl des Heimatverlustes

In vielen Beiträgen bringt Sloterdijk sein Unwohlsein gegenüber einem an Beschleunigung zunehmenden kulturellen Wandel zum Ausdruck. Über Jahrhunderte tradierte Selbstverständlichkeiten würden beseitigt, was zu einem subjektiven, aber auch objektiv meßbaren Gefühl des Heimatverlustes führe. Sloterdijk, der Kulturen und Traditionen immer auch als den einzelnen Menschen stabilisierende Immunsysteme gegen die Zumutungen des Daseins analysiert hat, beobachtet diese Entwicklung mit großer Sorge. Anfang 2013 – der von den westlichen Medien herbeigeschriebene Arabische Frühling ist endgültig gescheitert – prophezeit er enorme Migrantenströme, die Europa als immunologischen Raum der kulturellen Selbstverständlichkeiten weiter destabilisieren würden.

In aller Deutlichkeit sollte Sloterdijk seine Zukunftssorge schließlich auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise formulieren. In der Februarausgabe 2016 des Cicero diktierte er angesichts der Entscheidung Merkels, Deutschland zu einem beliebig veränderbaren Siedlungsgebiet umzugestalten, den Journalisten ins Blatt: „Es gibt schließlich keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung“, um im selben Atemzug die „Verwahrlosung“ des regierungshörigen deutschen Medienbetriebes zu beklagen. Daß er für diese Intervention mit den mittlerweile üblichen Diffamierungen – alter, weißer, reaktionärer Rassist – bedacht wurde, versteht sich im Deutschland der Gegenwart von selbst.

Sloterdijk ist ein politisch denkender Philosoph, der die Öffentlichkeit sucht, sich aber gegen Vereinnahmungen wehrt. Als ihm aufgrund des zitierten Interviews eine Nähe zur AfD unterstellt wurde – zudem sein ehemaliger Assistent Marc Jongen mittlerweile kulturpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Partei ist –, erwiderte er, mit dieser „Unmöglichkeitspartei“ nichts am Hut zu haben. Tatsächlich ist Sloterdijk kein Mann für parteipolitische Umarmungen, die sich immer einschränkend auf das eigene Denken und Publizieren auswirken. In Deutschland haben wir nicht viele in angelsächsischer Tradition stehende Intellektuelle, die das geistige und rhetorische Rüstzeug besitzen, sich bereichernd in den tagesaktuellen Diskurs einzumischen. Sloterdijk ist einer von ihnen und es bereitet Freude, einem großen Geist wie ihm über 29 Monate hinweg beim Denken über die Schulter zu schauen.

Peter Sloterdijk: Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011–2013. Suhrkamp, Berlin 2018, gebunden, 540 Seiten, 28 Euro