© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/19 / 08. März 2019

Zwiespalt zwischen Ideologie und Realität
DDR-Geschichte: Die Schriftstellerin Brigitte Reimann korrespondierte in „Geschwisterbriefe“ über ihren in den Westen geflüchteten Bruder
Jörg Bilke

Am 30. Mai 1964 kam es im Elternhaus Brigitte Reimanns in Burg bei Magdeburg zu einer Aussprache zwischen der aus Hoyerswerda angereisten Schriftstellerin und ihrem ein Jahr jüngeren Bruder Lutz. Er hatte in Rostock studiert und war Ostern 1960 als diplomierter Schiffsbauingenieur mit Frau und neugeborenem Kind „republikflüchtig“ geworden. In seiner Argumentation gegen die DDR-Verhältnisse glich er dem Chemiker Manfred Herrfurth aus Christa Wolfs Roman „Der geteilte Himmel“, der auch, allerdings 1961, „Republikflucht“ begangen hatte. Beide Flüchtlinge wußten aus ihrer Berufserfahrung als Naturwissenschaftler, daß der SED-Staat eine Totgeburt war und der „Sozialismus“ eine Chimäre. Also zogen sie, als es noch möglich war, die Konsequenzen und flüchteten, wie Hunderttausende vor ihnen, nach WestBerlin.

Brigitte Reimann (1933–1973) hat den jähen Verlust ihres Bruders an den westdeutschen „Klassenfeind“ nie verwunden. Noch ein Jahr nach der Flucht, in einem Brief an die Eltern, nannte sie ihn einen „Verräter“, der in seinen Briefen die DDR immer nur als „Ostzone“ bezeichnete. Außerdem warf sie ihm vor, „jahrelang von unserem Geld gelebt und studiert“ zu haben, ohne „geringste Gegenleistung“. Das war der ständig erhobene Vorwurf der Funktionäre gegenüber „republikflüchtigen“ Studenten, sie hätten von „Arbeitergroschen“ gelebt, als ob es irgendeine andere Möglichkeit gegeben hätte, sein Studium zu finanzieren.

Sie ließ sich verbotene Literatur schicken  

Der nun in Hamburg lebende Bruder durfte Eltern und Geschwister besuchen, nachdem ihm Brigitte Reimann über Otto Gotsche, als Walter Ulbrichts Sekretär einer der mächtigsten Männer im SED-Staat, ein Einreisevisum besorgt hatte. Die SED-Genossin Brigitte Reimann brauchte aber ihren Westbruder, mit dem sie sich jetzt versöhnt hatte,  noch aus ganz anderen Gründen: Er sollte ihr Bücher schicken, die in der DDR verboten waren, also „staatsfeindliche“ Literatur! Da sie wußte, daß solche Bücher, an ihre Privatadresse in Hoyerswerda gerichtet, nie angekommen wären, bat sie Bruder Lutz, die Bücherpäckchen an den DDR-Schriftstellerverband in Ost-Berlin zu schicken, von dort würden sie weitergeleitet. Darunter waren nun auch wirklich „antikommunistische Machwerke“ wie der vorzügliche Essayband „Der Mensch ohne Alternative. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein“ (1960) des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski. Aus diesem Bücherwunsch und daraus, daß sie offensichtlich auch das zweibändige „Deutsche Tagebuch“ (1959/61) des „Renegaten“ Alfred Kantorowicz kannte, der im Sommer 1957 Ost-Berlin fluchtartig verlassen hatte, ist zu schließen, daß sie mehr über den praktizierten Kommunismus erfahren wollte, ein Wissen, das ihr der eigene Staat vorenthielt!

Dieser umfangreiche Briefwechsel mit ihren drei Geschwistern zwischen Februar 1960 und Weihnachten 1973 ist die bisher letzte Veröffentlichung aus dem schier unerschöpflichen Brigitte-Reimann-Archiv in Neubrandenburg. Heutige Leser, zumal wenn sie im Westen aufgewachsen sind, müssen manche Textstellen wohl erst mühsam entschlüsseln, weil das nötige DDR-Wissen fehlt. Das fängt schon damit an, daß kaum jemand heute noch weiß, wer „Pittiplatsch“ und „Schnatterinchen“ waren, die allabendlich den Kindern im DDR-Fernsehen „Gute Nacht!“ wünschten. Ohnehin wirkt das ganze Buch, das eine Fülle von Einzelheiten zur DDR-Geschichte bietet, wie eine Botschaft aus einer längst untergegangenen Gesellschaftsordnung.

Als vielversprechende Nachwuchsautorin wurde Brigitte Reimann von ihrem Staat gefördert, wo immer es möglich war. Hatte sie doch schon 1960 gezeigt, als sie mit ihrem Mann Siegfried Pitschmann für acht Jahre nach Hoyerswerda ins Kombinat „Schwarze Pumpe“ zog, daß sie bereit war, die Mühen des „Bitterfelder Weges“ von 1959 auf sich zu nehmen. Zwei Jahre später, am 8. Dezember 1962, veröffentlichte sie unter dem Titel „Entdeckung einer schlichten Wahrheit“ in der SED-Zeitung Neues Deutschland einen Erfahrungsbericht über das gespaltene Bewußtsein der „Arbeiterklasse“ in „Schwarze Pumpe“, deren Vertreter in der Öffentlichkeit anders sprächen als unter vier Augen. Enttäuscht fragte sie: „Wie ist es möglich, daß Menschen, die im Betrieb Aktivisten und Neuerer sind, zu Haus die Filzlatschen anziehen und sich begnügen?“ Es war der gewaltige Zwiespalt zwischen Ideologie und Realität, den Brigitte Reimann in Hoyerswerda entsetzt wahrnahm und dessen literarischer Ausdruck der Roman „Franziska Linkerhand“ wurde.

Dieser unvollendet gebliebene Roman, sicher ihr bedeutendstes Werk, woran sie, von ihrer Krebserkrankung gepeinigt und von Selbstzweifeln geplagt, bis zu ihrem Tod gearbeitet hat, erschien 1974, von der Zensur verstümmelt, die vollständige Ausgabe lag 1998 vor. 

Brigitte Reimann: Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe. Herausgegeben von Heide Hampel und Angela Drescher, Aufbau-Verlag, Berlin 2018, gebunden, 416 Seiten, 33 Abbildungen, 24 Euro