© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/19 / 15. März 2019

Dilemma mit Potential
Neue Weltmacht: Was der rasante Aufstieg Chinas für Deutschland bedeutet

Kaum jemand hat diesen Aufstieg Chinas kommen sehen. Als Franz Josef Strauß 1975 ins Reich der Mitte reiste und Mao Tse-tung traf, glich das Land einem fremden Planeten. Die Straßen Pekings waren bevölkert von uniform gekleideten Radfahrern, die seltenen Autos waren den Regierungsvertretern vorbehalten, Ausländern blieb das Land so gut wie verschlossen, auf den Balkonen der städtischen Wohnblocks stapelten sich die Kohlköpfe – das unverzichtbare Nahrungsmittel der Einwohner für die Wintermonate. China exportierte nichts, existierte außerhalb der prosperierenden Weltwirtschaft, die Chinesen lebten in bitterster Armut.

Dann, Ende 1978, setzte der große Deng Xiaoping auf Reform und Öffnung und leitete einen Prozeß ein, der die Volksrepublik innerhalb von vier Jahrzehnten zur dynamischsten Volkswirtschaft der Welt katapultierte. Seit 2008 hat sich der Aufholprozeß noch einmal beschleunigt, gemessen an den Ausgaben für Forschung und Entwicklung oder an den Patentanmeldungen, die amerikanisches Niveau erreicht haben. Ebenfalls seit 2008 haben sich die chinesischen Direktinvestitionen im Ausland auf einen Stand von 2.000 Milliarden Dollar verzehnfacht. Kaufkraftbereinigt rangiert das chinesische Bruttoinlandsprodukt mit 23,2 Billionen Dollar inzwischen vor dem der USA mit 19,4 Billionen. Bis 2030, so die Schätzungen, könnte es doppelt so hoch sein wie das amerikanische. 

Hinter den Zahlen verbirgt sich eine epochale wirtschaftliche, geopolitische und in nicht zu ferner Zukunft auch militärische Machtverschiebung. Wir werden Abschied nehmen müssen von der Welt, wie wir sie kennen. Auf die „einzige Weltmacht“, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte, wird eine multipolare Weltordnung folgen.

Damit ist, vergleichbar mit der deutsch-englischen Konkurrenz vor 1914, der typische Konflikt zwischen etablierter und aufstrebender Großmacht programmiert. Er reicht weit über den schwelenden  Handelskonflikt hinaus. Nach Vorgabe des Masterplans „Made in China 2025“ strebt Peking die globale Technologieführerschaft an. Schon jetzt verzeichnet China die Hälfte der weltweiten Neugründungen auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz. Mit dem Sprung nach vorne von der Imitation zur Innovation wird China nicht zuletzt auch der deutschen Wirtschaft auf den Feldern Konkurrenz machen, wo sie noch immer zur Weltspitze zählt.

In den USA beginnen einflußreiche Strategen über das Risiko eines chinesisch-amerikanischen Krieges nachzudenken. Schon 2017 spielte der Harvard-Professor und Regierungsberater Graham Allison in seinem Buch „Destined for War“ („Unterwegs in den Krieg“) die möglichen Auslöser und den Ablauf eines solchen Krieges durch. Er hält ihn für möglich, aber nicht für unvermeidbar. Akut ist die Gefahr bis 2035, weil bis dahin die Modernisierung der chinesischen Streitkräfte abgeschlossen sein soll. Wie würde sich Deutschland in einer Auseinandersetzung positionieren, bei der keine eigenen Interessen auf dem Spiel stehen und die sich außerhalb des Bündnisgebietes abspielen würde? 

Die USA jedenfalls werden den Dollar als globale Leitwährung ebenso verteidigen wie ihre militärische Dominanz im Pazifischen Ozean, wo Peking das Südchinesische Meer mit seinen umstrittenen Inseln als Mare Nostrum beansprucht. Der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson, der früher einmal den optimistischen Begriff „Chinamerica“ als Ausdruck einer chinesisch-amerikanischen Symbiose geprägt hat, prognostiziert nun eine wachsende Eskalation. 

Damit gerät Deutschland in ein Dilemma, das zugleich Chancen beinhaltet. Einerseits wird die Bundesregierung ihre bisherige Naivität ablegen und darauf bestehen müssen, daß deutsche Firmen in China ebenso behandelt werden wie chinesische in Deutschland. Sie muß notfalls auch unerwünschte Übernahmen deutscher Unternehmen blockieren. Peking hat oft genug die Regeln der Welthandelsorganisation mißachtet, die faire gegenseitige Wirtschafts- und Handelsbeziehungen verlangen.

Andererseits kommt ein prosperierendes China der gesamten Weltwirtschaft zugute. Auch das Projekt der Seidenstraße mit seiner Vision transkontinentaler Handelswege und eines eurasischen Wirtschaftsraums kann Deutschland enorme Chancen bieten. Italien will sich als erstes Land der G7-Gruppe daran beteiligen. Wenn die Europäer zu ihren Bedingungen einsteigen, verspricht das Projekt großes Potential.

Zugleich müßte ein Ausgleich mit Rußland mit dem Endziel eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems und einer EU-Assoziierung angestrebt werden. Zusammen mit Rußland, dem unentbehrlichen Rohstofflieferanten Chinas, würde Westeuropa mehr Gewicht auf die Waagschale bringen. Die Sanktionen gegen Rußland blockieren dessen Entwicklung und damit einen lukrativen Absatzmarkt für die deutsche Industrie – und sie treiben die Russen gegen ihren Willen in die Arme ihres übermächtigen Nachbarn. 

Es spricht viel dafür, daß ein Arrangement mit Moskau die Koexistenz mit der Weltmacht China erleichtern würde. So oder so steht „Europas leere Mitte“ (Thorsten Hinz) vor einem Balanceakt, der ein Höchstmaß an diplomatischem Geschick, Kreativität und strategischer Planung erfordert. Ein Außenpolitiker vom Format eines Heiko Maas wird dem nicht gewachsen sein.






Dr. Bruno Bandulet war Chef vom Dienst bei der Welt und ist Herausgeber des „Deutschland-Briefs“ (erscheint in eigentümlich frei).