© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/19 / 15. März 2019

In der EU-Falle
Differenzen im Demokratie- und Werteverständnis: Zwischen Ost- und Mitteleuropa und dem Westen herrscht ein politisches Machtgefälle
Thorsten Hinz

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán denkt nicht daran, seine Kritik an EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und am „Open Society“-Börsenspekulanten George Soros zurückzunehmen. Ausdrücklich bekennt er sich zur Plakataktion, die beiden vorwirft, die illegale Einwanderung nach Europa zu fördern. Typisch für die Reaktionen der Politiker in Brüssel, Berlin und anderswo ist der Kommentar des Grünen-Politikers Winfried Kretschmann: „Diese diffamierende Kampagne ist antieuropäisch und widerspricht unseren europäischen Werten.“  

Was aber sind die „europäischen Werte“? Die Differenzen im Werteverständnis sind unübersehbar, insbesondere die zwischen West und Ost. Orbán selbst hat sie 2014 auf eine griffige Formel gebracht, als er zwischen „liberaler“ und „illiberaler“ Demokratie unterschied. Die Begriffe sind in die politische Alltagssprache eingegangen und werden je nach Himmelsrichtung und Standpunkt gegensätzlich konnotiert.

Westeuropäische Politiker sehen sich als Vertreter der liberalen Demokratie und meinen damit Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, persönliche Freiheits- und Minderheitenrechte, Individualismus und Emanzipation. Illiberale Demokratien würden zwar die demokratischen Formalien beachten, faktisch würden sie jedoch autoritär durchregiert. So erklärte Bundespräsident Steinmeier: „Demokratie ist entweder liberal, oder sie ist keine Demokratie.“

Orbán erklärt die illiberale Demokratie naturgemäß anders. Sie negiere „nicht die Grundwerte des Liberalismus, wie die Freiheit“ und Menschenrechte, doch sie verbinde sie mit einem „nationalen Denkansatz“, statt sie zur Ideologie zu erheben. Sie sehe in der ungarischen Nation „nicht einfach eine bloße Ansammlung von Individuen, sondern eine Gemeinschaft, die organisiert, gestärkt (...) werden muß“. Den eigenen Bürgern gegenüber habe sie eine Schutzfunktion. Als Beispiele nannte er den Schutz des öffentlichen Vermögens und der Familien vor Verschuldungsfallen, welche der liberale Staat zugelassen habe. Auf Deutschland übertragen würde das etwa die Verpflichtung bedeuten, die Sparer vor der Ausplünderung durch die Draghi-EZB und die Bürger vor dem Kriminalitätsimport zu bewahren.

Die aktuellen Ost-West-Unterschiede im Werteverständnis haben einen historischen Vorlauf, den der ungarische Politikwissenschaftler György Schöpflin im Aufsatz „Mitteleuropa in der Falle. Zur Mesalliance mit der EU“ in der Zeitschrift Osteuropa (Heft 3-5/2018) dargestellt hat. Schöpflin, Jahrgang 1939, sitzt für die Regierungspartei Fidesz im Straßburger Parlament. Die meiste Zeit hat er in Großbritannien gelebt, wohin seine Eltern 1950 emigriert waren.

Schöpflin konstatiert zunächst einen historischen Rückstand der ost- zu den westeuropäischen Staaten. Während sich im Westen längst bürgerliche Nationalstaaten mit modernen Gesellschaften herausgebildet hatten, standen die osteuropäischen Nationen unter der Oberhoheit von Imperien, welche die Modernisierung von Staat und Gesellschaft als Gefahr betrachteten. Für Polen führte die Verabschiedung der ersten modernen Verfassung in Europa 1791 zur Auslöschung seiner staatlichen Existenz, die mehr als 120 Jahre währte. Die Phase nach dem Ersten Weltkrieg war zu kurz und zu turbulent, um stabile Demokratien zu etablieren.

Während der Einverleibung des östlichen Mitteleuropas in das Sowjetimperium nach dem Zweiten Weltkrieg war der Bezug auf die eigene Nation und Ethnie ein Akt der Verweigerung und des Widerstands. Der Wunsch nach Demokratie spielte gleichfalls eine Rolle, blieb aufgrund mangelnder Erfahrung und Öffentlichkeit jedoch vage. Die Ethnizität hingegen war der konkrete, weil gelebte Bezugspunkt. Für Westeuropa, das nach 1945 den Nationalismus als erledigt betrachtete, wurde der Jugoslawien-Krieg zu einem traumatischen Erlebnis und zum Anlaß, sich ganz von ethnischen und nationalen Kategorien zugunsten eines liberalen Universalismus zu verabschieden.

Im Osten erwiesen die jungen Angehörigen der alten Nomenklatura sich nach 1989 als das am meisten flexible und anschlußfähige politische Personal. Sie empfahlen sich als Reformkommunisten, als Sozialdemokraten, Manager, Experten, Technokraten. Blitzschnell adaptierten sie das liberale Vokabular der Westeliten und wurden zu deren bevorzugten Ansprechpartnern, während das Volk sich wiederum ausgeschlossen fühlte. Da der Widerstand aus der Zeit des Kommunismus eine magische Konnotation besaß, konnte er zu einer kompakten politischen Kraft werden, die schließlich in Regierungsverantwortung einrückte.

Den Ost- beziehungsweise Mitteleuropäern präsentiert der Liberalismus sich als ein „reifes Hegemonialsystem“, das zur Selbstsakralisierung neigt und Alternativentwürfe – siehe Steinmeier – als illegitim verurteilt. Konservatismus, Sozialdemokratismus und die Christdemokratie sind nur noch Unterkategorien der liberalen Norm. Diese ist aus ihrem räumlichen Kontext entbunden und wird als universelle Kategorie behandelt. Nationale oder regionale Besonderheiten gelten als störend und werden planiert. Die wirksamste Waffe sind die „Menschenrechte“. Durch sie wird die liberale zu einer moralischen Mission und unangreifbar, was die Missionare zu einem puritanischen Fanatismus und politischen Fundamentalismus verführt.

Unterfüttert wird das liberale Projekt durch teleologisch konstruierte Geschichtsbilder, eigentlich Rechtfertigungsideologien, die sich auf den Holocaust und die koloniale Vergangenheit beziehen, die allerdings nur Westeuropa betrifft. Der neue Ost-West-Konflikt kulminiert im Streit um die Verteilung von Flüchtlingen. Die Mittel- und Osteuropäer sehen sich durch die EU in eine Lage versetzt, die an die imperiale Bevormundung früherer Zeiten erinnert.

Noch radikaler formuliert Ryszard Legutko, Philosophieprofessor aus Krakau, seine Liberalismus-Kritik. Der frühere Solidarnosc-Aktivist, der heute gleichfalls im Europaparlament sitzt, geht in seinem Buch „Der Dämon der Demokratie“ so weit, dem Liberalismus einen ähnlich totalitären Impetus zu attestieren wie dem Kommunismus. Lenin habe das allmähliche Absterben des Staates im Sozialismus, das heißt seine Reduktion auf verwaltungstechnische Aufgaben prognostiziert. Was in Wirklichkeit folgte, ist bekannt. Ähnlich verhalte es sich mit der „erstickenden Zudringlichkeit der liberalen Demokratie“, die Ehe, Familie, das Gemeinschaftsleben, die Sprache, die Sexualität unter ihre Kontrolle bringen wolle. Die Berufung auf die „Würde des Menschen“ gebe jedem das Recht, einen Katalog von Ansprüchen aufzustellen, ohne im Gegenzug Verpflichtungen übernehmen zu müssen. Die Folge sei die sich ausbreitende Vulgarität neuer Barbaren. „Während die Barbarei der Kommunisten vorkulturell war, ist die der liberalen Demokratie postkulturell.“

Kein gutes Haar läßt Legutko an den Brüsseler Eliten: „Arrogant und selbstbewußt, haben sie keinen Respekt vor dem Erbe, das sie nicht kennen und von dem sie nichts hören wollen. Sie sind Bürokraten und Apparatschiks, keine Visionäre und Staatsmänner. Sie sind nicht von der europäischen Kultur geformt, von der sie wenig Ahnung haben, und was sie davon kennen, mögen sie nicht.“

Schöpflin drückt sich vornehmer aus und spricht vom eskapistischen, von lokalen Bindungen losgelösten Individualismus und der Mobilität privilegierter Eliten, die eine globale Gemeinschaft imaginierten. Zugleich konstatiert er, daß West und Ost weiterhin in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander stehen und ein politisches, ökonomisches und ein psychologisches Machtgefälle existiert. Millionen Arbeitskräfte sind in den Westen abgewandert, der seinerseits erwartet, daß seine Transfersleistungen mit Gefolgschaft vergolten werden. Insofern befindet sich Osteuropa in der „Falle“ der EU.

In der Tat gibt es keine innerökonomische Notwendigkeit, daß die wirtschaftlichen Kraftzentren sich in den Osten verlagern. Den Ausschlag könnten äußere Gründe geben. In einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt hat Viktor Orbán Anfang März erklärt, daß die Flüchtlingskrise nicht beendet sei. „Alles, was wir seit 2015 erlebt haben, wird noch stärker erneut geschehen.“ Es ist absehbar, daß weite Teile Westeuropas ihren europäischen Charakter verlieren werden. Schon heute verpulvert Deutschland seine Miliardenüberschüsse, um die ins Land gelassene natürliche Dummheit ruhigzustellen, während alle Welt davon spricht, daß künftiger Wohlstand von der Entwicklung künstlicher Intelligenz abhängt. Orbán betont die Bereitschaft Ungarns, seine Grenzen zu verteidigen. Der in liberaler Selbstblockade gefangene Westen ist dazu kaum mehr in der Lage. 

Es kann sehr schnell gehen. Der britische Historiker Frederick Taylor schreibt in seinem Buch über die Berliner Mauer, daß 1939 die industrielle Pro-Kopf-Wertschöpfung auf dem Gebiet der späteren DDR höher lag als in der späteren Bundesrepublik. Binnen weniger Jahre kehrte das Verhältnis sich komplett um. Weltbekannte Konzerne, Betriebe, Banken hatten ihre Standortorte in den Westen verlagert. Perspektivisch ist der Wettbewerb zwischen liberalen und illiberalen Demokratien offen.