© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/19 / 15. März 2019

Der nächste Relotius
Die Kritik an den Redaktionen wächst: Erneut ist ein Journalist aufgeflogen, gelogen zu haben
Ronald Berthold

Wer als Reporter nicht argumentieren mag, wird gern persönlich. Das lieben Ressortleiter und die Jurys von Journalistenpreisen. Nach dem Spiegel-Mann Claas Relotius ist mit Dirk Gieselmann nun erneut eine hochdekorierte sogenannte Edelfeder der Mainstreammedien als Lügner aufgeflogen. Über die AfD-Vorsitzende schrieb der Autor 2017 in der Zeit, nachdem sie Friedrich Nietzsche zitierte: „Dann lächelt sie wie eine siegreiche Ziege.“ Es ist dieser herablassende, argumentfreie Kitsch, das Wort als Waffe, mit dem Leute wie Gieselmann gern ihre Macht zeigen und wofür sie die Branche feiert. Da macht es auch nichts, daß das Bild schief ist. Ziegen lächeln nicht, und siegreich sind sie auch nicht. Wichtig ist es, Haltung zu zeigen.

Die Ursachen liegen im System

Gieselmann schrieb nicht nur für die Zeit und Zeit Online. Er veröffentlichte 43 Texte im Spiegel und dessen Online-Ausgabe, arbeitete für den Tagesspiegel, die Süddeutsche Zeitung und deren Magazin. Dort flog er jetzt auf. Nicht etwa, weil die Redaktion skeptisch war. Sie wollte schlicht die Protagonistin eines Textes fotografieren lassen. Da stellte sich heraus, daß es die gar nicht gibt – Relotius reloaded. Das SZ-Magazin und andere Blätter haben daraufhin weitere Artikel Gieselmanns überprüft. Ergebnis: „Ein gestörtes Verhältnis des Autors zur Wahrheit wird offensichtlich“, faßt es der Branchendienst Meedia zusammen. Bei der Zeit heißt es vornehmer, der Starreporter habe gegen die „Sorgfaltspflicht und die journalistischen Grundsätze“ verstoßen. Dort seien bisher in jedem dritten von etwa 50 Beiträgen Fehler aufgefallen.

Zwar hat Dirk Gieselmann nicht ganz so viele Auszeichnungen wie Claas Relotius gesammelt. Aber immerhin erhielt er ebenfalls den Reporter- und den Henri-Nannen-Preis. Bei den „Journalisten des Jahres“ kam er auf Platz drei. Und wie sich die Formulierungen gleichen: Während Relotius einen Amerikaner erfand, der einfach in die Nacht schießt, um eventuell einen Einwanderer zu treffen, heißt es bei Gieselmann gleich über ganz Deutschland: „Er langt nach der Pistole auf dem Schränkchen und schießt in die Nacht.“ Das krampfhafte Wollen, besonders mit der Sprache umzugehen, zieht sich durch das Werk dieses „Journalisten“ wie ein roter Faden: „Es war ein heißer Tag in Berlin, die Sonne stand am Himmel wie ein falscher Diamant im Schaufenster.“ Und wenn dann noch die AfD-Politikerin Beatrix von Storch einer mitgegeben werden kann, jubeln die Kollegen: „Der alte Grenzturm steht da wie eine beleidigte Schachfigur, übriggeblieben von einer verlorenen Partie, auf einem staubigen Brett. Man sollte schießen, sagt eine Adlige, die gern mächtig wäre, auch auf Frauen und Kinder.“ Die Passagen stammen aus dem Zeit-Magazin-Beitrag „Atlas der Angst“. Sie haben die zahlreichen Korrekturen, die der Verlag inzwischen vorgenommen hat, schadlos überstanden.

Die Verantwortung, daß solch freihändige Prosa den Weg in die Leitmedien findet, tragen nicht Gieselmann, Relotius und womöglich noch einige andere allein. Es sind die Redaktionen, die sich diesen Kitsch wünschen. Ob die Worte nicht nur gefällig, sondern auch wahr sind, spielt eine untergeordnete Rolle. Wer einem Relotius abnimmt, daß Angela Merkel syrischen Flüchtlingskindern in der Türkei nachts im Traum erscheint, hat die Fähigkeit, Texte allein schon auf Plausibilität zu untersuchen, verloren.

Relotius und nun Gieselmann sind Symptome einer Branche, die sich die Wahrheit gern zurechtbiegt und dabei ständig „Fake News“ und „Rechtspopulismus“ ruft, wenn es um alternative, vor allem konservative Medien geht. Während Chefredakteure verzweifelt realisieren, wie ihre Leser in Scharen das Weite suchen, wollen sie dennoch ihr zweifelhaftes Deutungsmonopol behalten – im Zweifel mit Verunglimpfungen der ­nichtlinken Konkurrenz.

Besonders peinlich ist die Affäre für den Spiegel. Dessen ständig hochgelobte Dokumentation konnte nach den Relotius-Lügen auch die Manipulationen Gieselmanns nicht verhindern. Zerknirscht räumt das Nachrichtenmagazin gegenüber Meedia ein, der Mitarbeiter habe „gegen journalistische Standards verstoßen“ und die Redaktion „getäuscht“. Damit ist die Einzelfall-These, mit der der Spiegel in Sachen Relotius seine Glaubwürdigkeit verteidigte, wohl widerlegt. Innerhalb kürzester Zeit flog der zweite Münchhausen auf. Ausgerechnet zu der Zeit, in der die Kommission zur Aufarbeitung des Relotius-Skandals ihren Zwischenbericht vorlegte und ein kritisches Licht auf das Spiegel-Gesellschaftsressort wirft, das auch einige Texte Gieselmanns betreut hat. Ressortleiter Matthias Geyer, der zum Blattmacher aufsteigen soll, und sein Vorgänger Ullrich Fichtner, der sogar als Teil des neuen Chefredaktions-Trios vorgesehen ist, zählten zu den Förderern von Claas Relotius. Der Prüfbericht und der Fall Gieselmann befeuern nun die Zweifel an den offiziell vorerst ausgesetzten Beförderungen, über deren letztendliche Umsetzung in der zweiten Märzhälfte entschieden werden soll. Besonders für Geyer könnte es „schlecht ausgehen“, da er die Aufklärung bei Relotius „anfangs massiv behindert“ habe. Von Gieselmann haben sich die Süddeutsche Zeitung, der Spiegel und die Zeit inzwischen getrennt.