© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/19 / 15. März 2019

Angst und Ohnmacht erzeugend
Verflechtungswahrnehmungen: Über die Schwierigkeiten der Geschichts- und Sozialwissenschaft, die Globalisierung zeithistorisch in den Griff zu bekommen
Dirk Glaser

Die in betrügerischer Absicht zur „Flüchtlingskrise“ ausgerufene orientalisch-afrikanische Masseninvasion, der seine Kanzlerin im Sommer 2015 die Grenzen öffnete, deutete der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble als „Rendezvous mit der Globalisierung“. Monate später konkretisierte der zu zynischem Humor neigende Welterklärer aus der badischen Provinz, daß die Globalisierung mitsamt Wanderungsbewegungen in Richtung des globalen Nordens ein „Schicksal“ sei, gegen das sich Europa nicht wehren könne. Nennenswerten Protest  gegen diesen Fatalismus, der faktisch das Ende aktiv gestaltender Politik proklamierte, erntete Schäuble nicht.

Für den Tübinger Historiker Jan Eckel ist der – gemessen am Ergebnis für die Altparteien bei der letzten Bundestagswahl – bis heute bei 87 Prozent der deutschen Wahlbürger ausgebliebene Widerspruch gegen den von Schäuble kolportierten neoliberalen Verblendungszusammenhang nicht verwunderlich. Die Vorstellung, alternativlos in einem „Zeitalter der Globalisierung“  leben zu müssen, beherrscht weiter das öffentliche Bewußtsein.

Ein Begriff als Schlüssel des Weltverständnisses

In der tagespolitischen Debatte, in intellektuellen Bestandsaufnahmen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen, hat der Begriff Globalisierung im Verlauf des letzten Vierteljahrhunderts Karriere als „zentrale Deutungsfigur“ und „emblematischer Schlüssel des Weltverständnisses“ gemacht. Alle seit Ende des Kalten Krieges die westlichen Gesellschaften bedrängenden Prozesse führen deren Kommentatoren, befürwortend oder ablehnend, auf eine weltumspannende, sich immer schneller verdichtende Verknüpfung von Staaten, Kulturen und Wirtschaftsräumen „quer über den Globus“ zurück. So sei, wie Eckel es in seiner Studie „Zur Historisierung des Globalisierungsdiskurses der 1990er und 2000er Jahre“ (Historische Zeitschrift, 307/2018) auf den Punkt bringt, das jedermann erfassende, nicht selten mit Angst und Ohnmachtsempfinden gemischte Gefühl entstanden, „alles hängt mit allem zusammen“.

Aus dieser Perspektive seien die „blutrünstigen Anschläge islamistischer Terrornetzwerke“ ebenso Ausdruck der Globalisierung wie der Klimawandel, das Internet, der Freihandel, die modernen Völkerwanderungen inklusive dessen, was Eckel maximal verniedlichend „die Einreise Hunderttausender vor allem syrischer Flüchtlinge“ in die Bundesrepublik nennt. Historisch unterscheide sich diese „Verflechtungswahrnehmung“ allerdings von ihren Vorläufern im 19. und 20 Jahrhundert. Etwa von dem optimistischen und fortschrittsseligen Chor, der die um 1850 einsetzende, im Zeichen von Imperialismus und Kolonialismus stehende „erste Globalisierung“ begleitete. Oder von dem schon pessimistischer getönten „Interdependenz“-Diskurs in den 1970ern, als mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems, der „Ölkrise“, den vom Club of Rome aufgezeigten „Grenzen des Wachstums“ und dem sich warmlaufenden Radikalliberalismus à la Thatcher mit der „neuen Zauberformel Globalisierung“ der Kampf um eine neue Weltwirtschaftsordnung begann.

Im Unterschied zu diesen ebenfalls mit „Neuartigkeitsrhetorik“ gespickten älteren Interpretationen weise die gegenwärtige Globalisierungsrede wirklich „qualitativ neuartige“ Dimensionen auf. Denn selbst moderatere Stimmen sprächen davon, daß sich Veränderungen vollzögen, die „anders sind als alles, was in der Geschichte zuvor bekannt“ war. Dennis Meadows, Mitautor des Reports über die „Grenzen des Wachstums“, scheut sich darum heute nicht, die Wandlungen des 21. Jahrhunderts auf eine Stufe zu stellen mit dem Übergang, den die Menschheit vor 8.000 Jahren vollzog, mit dem Seßhaftwerden der Nomaden.

Auch die bundesdeutsche Histori-kerzunft kam am Globalisierungsbegriff  nicht vorbei, wandte sich dieser epochalen, „alles überwölbenden Grundtendenz“ aber relativ spät und zögerlich zu. Eine auch nur annähernd einheitliche Auffassung des Begriffs habe sich dabei bislang nicht entwickelt. Vielmehr zeichne sich eine nicht unbeträchtliche Bandbreite an Möglichkeiten ab, ihn inhaltlich zu füllen und argumentativ zu verwenden. Im Extremfall werde der Terminus gar nicht näher bestimmt, sondern seine Evidenz vorausgesetzt, so daß er als Leerformel Erklärungen mehr ersetzt als anbietet. Sein Potential als Analysekategorie werde daher in vielen zeithistorischen Darstellungen des Phänomens nicht ausgeschöpft.

Unschärfe verschleiert, wer eigentlich handelt

Im Gegensatz zu Autoren in den Sozialwissenschaften wie Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf, den deutschen „Klassikern“ der Roß und Reiter nennenden ökonomisch orientierten Globalisierungskritik, verschleiere die bei Historikern übliche begriffliche Unschärfe, „wer eigentlich handelte“ und handelt. Akteurszuschreibungen könnten mithin diffus erscheinen. Beschrieben Historiker die wirtschaftlichen Veränderungen der 1990er als Folge der Globalisierung, so verstünden sie sie lediglich als „abstrakten Großprozeß“, statt präzise zu bezeichnen, „wer wann aus welchen Gründen Entscheidungen traf, die räumlich vernetzende Folgen hatten“. Es sei eben ein Unterschied, ob man anhand der Quellen rekonstruiere, wie Unternehmen ihre Produktion globalisieren, indem sie Fertigungsstätten auf mehrere Kontinente verteilen, oder man schlicht eine „numinose Globalisierung der Wirtschaft“ postuliere.

Im schlechtesten Fall, wie in Andreas Wirschings „Geschichte Europas in unserer Zeit“ (2012) oder Ulrich Herberts „Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“ (2014) geschehen – die Beispiele ließen sich leicht vermehren –, führten solche „Unklarheiten in der Frage der Verursachung“ sogar dazu, Globalisierung zugleich als Ursache und Wirkung zu verstehen. Was in Nonsens-Deutungen münde: „Wirtschaftsprozesse globalisieren sich infolge der Globalisierung.“

Damit handle sich die Zeitgeschichtsschreibung das weitere Problem ein, zeitgenössische Argumentationszusammenhänge zu reproduzieren statt sie kritisch zu brechen. So nehmen die meisten Darstellungen zur jüngsten Zeitgeschichte den Gedanken auf, anonyme „Herausforderungen“ der Globalisierung hätten quasi naturgesetzlich einen „Anpassungsdruck“ erzeugt, der die sozialstaatlichen Reformen der rot-grünen Schröder/Fischer-Regierung „erzwungen“ habe. Selbst wenn kein Historiker so weit gehe, diesen Sozialabbau als „alternativlos“ zu preisen, bewegten sich die analytisch schwachen Interpreten doch „in großer Nähe zur Sichtweise der politischen Akteure“. Lange vor Angela Merkel versuchte die politische Klasse nämlich, ihre dem demokratischen Souverän nicht zur Abstimmung vorgelegten Projekte mit unhinterfragten, unabweislichen „Sachzwängen“ der globalisierten Billiglohnökonomie zu legitimieren. Schwadronierte doch der grüne Außenminister Joschka Fischer, als „Madeleine Albrights Pudel“ an der kurzen Leine der damaligen US-Außenministerin gehalten, schon 1999 darüber, es gebe „allen Ernstes keine Alternative“ dazu, daß Europa sich der Globalisierung anpassen „muß“.