© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

„Diese Revolution ist gerecht“
Phillipe de Veulle beteiligte sich von Beginn an am Aufstand der französischen Gelbwesten. Der Jurist und Dozent ist einer der Sprecher des Anwaltskollektivs der Bewegung
Eva-Maria Michels

Herr de Veulle, was steckt hinter der Gelbwesten-Bewegung? 

Phillipe de Veulle: Die Gelbwesten sind die Revolution der Mittelschicht, des arbeitenden Frankreichs! Ärzte, Krankenschwestern, Geschäftsleute, Lkw-Fahrer, Handwerker etc. – die gesamte Mittelschicht, die am stärksten besteuert wird und deren Gehälter nicht mehr bis Monatsende reichen, trägt die gelbe Weste! Und auch Polizisten und Soldaten haben meiner Meinung nach ein gelbes Herz. Die Elite dagegen, Banken, Börse, Bürokratie, Showbiz etc. flüchtet zu Präsident Macron. Und politisch gibt es bei uns alles: Rechte, Linke, Anhänger der Mitte sowie enttäuschte Macron-Wähler. 

Sehen Sie historische Parallelen?

Veulle: Es gibt Ähnlichkeiten zwischen 1789 und 2019, denn Frankreich ist mit dem revolutionären Geist verwoben. Der 14. Juli ist ein sehr gewalttätiger Feiertag. Für den König endete es damals schlecht. Und so wie er nicht abdanken wollte, so führt Macron die Debatte heute nach seinem Geschmack, statt auf unsere Hauptforderung einzugehen, die Einführung eines Bürgerbegehrens. Wollte Macron eine Debatte, würde er nicht grundlos Leute ins Gefängnis sperren lassen, und er würde die Polizeigewalt gegen die wenigen, die noch zu demonstrieren wagen, unterbinden. 

Wie gefährlich ist diese „Revolution“?

Veulle: Wir müssen aufpassen, daß sie nicht in einem Bürgerkrieg endet! Denn wenn sich die Banlieues, deren Leid weit tiefer ist als das der Gelbwesten, einmischen, kann ich für nichts garantieren ... 

Ist das eigentlich „nur“ eine soziale Krise?

Veulle: Nein, unter den Gelbwesten sind zum Beispiel auch viele Ordensleute und Priester. François hier etwa trägt ein gelbes Kreuz und ist gekleidet wie zu Jesu Zeiten. Es gibt alle Arten von Leuten mit allen möglichen Motiven.

Auch Extremisten, wie Ihnen vorgeworfen wird.

Veulle: Was nicht heißt, daß die ganze Bewegung extremistisch ist! Einige unserer Anführer sollten ihrer neuen Berühmtheit aber mißtrauen. Sie fangen an, sich für allmächtig zu halten, weil so viele ihnen in den sozialen Netzwerken folgen. Wir müssen aufpassen, daß sie keine Monster werden, so wie Macron. Das ist nicht einfach, weil es alle Arten von Menschen in der Bewegung gibt. Übrigens selbst im Schwarzen Block, wo es auch angesehene Bürger gibt, die aber eine Revolte für legitim halten – darunter Banker, Familienväter, Intellektuelle – ja sogar Patrioten. 

Ist der Schwarze Block nicht die Antifa? 

Veulle: Nein, die ist was anderes: Sie ist sehr politisch, verfolgt Rechte oder Rechtsextreme, profitiert vom Chaos, um die Bewegung zu infiltrieren. Insgesamt gibt es in der Bewegung schwere Kämpfe. Doch es gibt eine Art Rückgrat, das relativ intelligent handelt. Daher bin ich optimistisch, daß unsere Bewegung sich im ganzen treu bleiben wird.

Aber läßt die Gewalt bei der Gelbwesten-Demonstration vom vergangenen Samstag in Paris nicht das Gegenteil befürchten? 

Veulle: Der Schwarze Block, der zu Gewalt bereit ist, bekommt eben immer mehr Zulauf, wie gesagt, sogar aus gutbürgerlichen Kreisen! Ein Teil der Gelbwesten geht zu ihm über, wegen der Mißachtung, die wir von seiten der Regierung erfahren. Deshalb ist es scheinheilig, sich über die Gewalt zu entsetzen. Denn einen sauberen Krieg, so etwas gibt es nicht. Man kann Kollateralschäden nicht verhindern, wenn die Regierung alles tut, das Volk in Wut zu bringen. Nun, das ist ein Vorläufer dessen, woraus Bürgerkrieg werden kann, wovor ich ja warne! Ich bin kein Anarchist, im Gegenteil, ich bin rechts und Patriot. Ich war auch nie gegen die Sicherheitskräfte. Aber meine Seite ist die des Volkes, dessen Not ich bekämpfe. 

War der Euro dafür mit ein Auslöser?

Veulle: Man hatte uns versprochen, mit dem Euro steige die Kaufkraft, das Leben würde großartig werden. Doch tatsächlich wurde es schwieriger. So stieg der Preis für ein Baguette von einem Franc auf einen Euro oder gar 1,50 Euro. Nehmen Sie das als symbolisch für den Preisanstieg aller Grundnahrungsmittel. Die Gehälter aber folgten dem Preisanstieg nicht. So entstand eine wirtschaftliche Lähmung und viel Armut. Und auch die Immmobilienpreise stiegen. Der Euro hat zwar erlaubt, Rohstoffe billiger einzukaufen, doch im Alltag hat er die Kaufkraft zerstört. 

Warum eskalierte die Situation schließlich?

Veulle: Mit Macron haben wir einen Jungen als Präsidenten. Er hat keine politische Erfahrung, versteht nichts von Geopolitik, hat keinen Militärdienst geleistet und kennt die Leiden der Leute nicht. Er hat nur die Auswahlverfahren der Eliteunis bestanden und sein Arbeitsleben direkt in Ministerien begonnen, wo ihm von Beginn an sogar ein privater Koch zur Verfügung stand. Dann ist er ins Bankgeschäft gewechselt, hat durch Fusionen drei Millionen Euro verdient und glaubte, nun Präsident werden zu können. Erst war er Berater, dann Minister von Präsident François Hollande. Unter ihm nutzt er sein Ressort – das Wirtschaftsministerium –, um den Taxi-Dienst „Uber“ zuzulassen, wodurch er die Taxifahrer ruinierte, die ihre Lizenz für 200.000 Euro erworben hatten! Durch seine „Bewegung“ La République en Marche, die tatsächlich keinerlei Verankerung im Volk hat, und durch seine Kampagne „Weder rechts noch links“ verriet er Hollande. Er profitierte vom Ausscheiden ernstzunehmender Präsidentschaftskandidaten, insbesondere vom Ausscheiden François Fillons, der Opfer eines Putsches von Medien und Justiz wurde, und stand schließlich Marine Le Pen gegenüber – womit klar war, daß er Präsident werden würde. Hat man aber das Glück, Präsident der Republik zu sein, nimmt man Abstand und belehrt weder die Menschen, noch hält man sich für Napoleon. Macron aber umgibt sich mit Absolventen der Elite-Schmiede ENA, die jede Bodenhaftung verloren haben und die Bürger als Leibeigene sehen. Dabei sind Rechte wie ich nicht grundsätzlich gegen Macron, wir wollten ihn bei guten Initiativen unterstützen. Das war aber, bevor uns sein Verhalten zu unserem heutigen, vernichtenden Urteil über ihn gezwungen hat.

Doch warum konkret eskalierte die Lage? 

Veulle: Na, weil Macron einfach nicht gegen seine Natur ankommt. Er wurde gewarnt: Die Leute können nicht mehr. Er verstand nicht, machte lächelnd weiter wie bisher. Das ging so bis zum 17. November, dem Tag, an dem die Bewegung losbrach. Doch Macron mißachtete uns drei weitere Wochen – drei Wochen sind in der Politik kostbar viel Zeit. 

Hätte er die Bewegung stoppen können? 

Veulle: Natürlich. Sehen Sie, persönlich habe ich nichts gegen ihn, doch seine arrogante, geringschätzende und desinteressierte Art als Präsident der Republik ist zum Verzweifeln. Er empfängt lieber seine Millionärs-Freunde als etwa die Angehörigen der Terroropfer von Bardo. Doch als Präsident muß er Volk und Menschen nahe sein! Das aber kapiert er nicht. Und nun ist es zu spät. Ich frage mich, wie er noch drei Jahre regieren will? 3.000 Sicherheitskräfte umgeben ihn, wenn er im Land unterwegs ist. Überall wird er mit „Macron tritt zurück!“ oder „Idiot!“ etc. empfangen.  

Auf wen stützt Macron sich noch?

Veulle: Hauptsächlich auf Großstädter aus Paris, Lyon, Marseille. Seine Basis schrumpft aber wie jenes verhängnisvolle  Chagrinleder im gleichnamigen Roman von Honoré de Balzac. Denn das Präsidentenamt ist gemäß Verfassung für historische Persönlichkeiten mit starker Legitimität zugeschnitten. Doch er ist weder historisch, noch hat er wahre Legitimität – nur die jener 22 Prozent, die ihn in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl aus Überzeugung gewählt haben. In der zweiten erhielt er ja viele Stimmen nur, um Le Pen zu verhindern. Inzwischen mißbraucht er seine Macht, verletzt die Gewaltenteilung und macht so, wegen deren Neutralitätspflicht, die Sicherheitskräfte zu seinen Geiseln. Er verwandelt sie de facto in seine Miliz, mit der Folge, daß die Franzosen den Respekt für sie verlieren. Ich fürchte, wir erleben derzeit, wie Macron der V. Republik den Todesstoß versetzt.  

Aber Macron organisiert eine nationale Debatte, das können Sie nicht ignorieren.

Veulle: Ach, das ist eine Diskussion unter Gleichgesinnten! Unsere Hauptforderung, die Einführung des Volksbegehrens, wird überhaupt nicht einbezogen! 

Warum liegt das Volksbegehren den Gelbwesten so am Herzen? 

Veulle: Derzeit kehren Dschihadisten aus Syrien zurück. Das Volksbegehren wäre ein Mittel, um zu erfahren, ob die Franzosen das wollen. Jetzt entscheidet darüber ein Minister. Aber schauen Sie, was in unseren Gefängnissen geschieht: Selbst dort begehen Islamisten Terroranschläge! Längst hat sich der IS festgesetzt. Es macht wirklich Angst, diese Probleme, die sich über vierzig Jahre angesammelt haben, anzupacken. Das Volk muß entscheiden, wie wir sie lösen wollen, nicht ein einzelner Politiker!  

Anders als Macron sind die Gelbwesten nicht demokratisch legitimiert. Was gibt Ihnen also das Recht, zu beanspruchen die Politik mitzubestimmen?

Veulle: Halt! Diese Revolution ist gerecht, weil das Volk es leid ist, alle Lasten zu tragen. Die Multinationalen betreiben Steueroptimierung, und die Rentner müssen zahlen, ebenso wie die Eigentümer, deren Immobilien bereits unendlich besteuert worden sind, während jene, die über Kapital verfügen von Steuern befreit werden. Die Ehrlichsten werden bestraft, die, die ihr Leben lang am meisten bezahlt haben – die anderen finden Steuerschlupflöcher. Das Volk empfindet diese absolute Ungerechtigkeit.

Reden Sie da nicht wie ein Kommunist? 

Veulle: Ich bin gewiß keiner, und um diese Tatsachen zu erkennen muß man auch keiner sein. Aber wenn Sie mir nicht glauben, dann nicht. Das ändert nichts daran, daß es so ist und daß das Volk es nicht länger mitmacht. Alles wird explodieren, gleich was Sie davon halten.

Was gibt Ihnen diese Gewißheit?

Veulle: Die Intuition – und verwechseln Sie das nicht mit Spekulation. Ich lese sehr viel, habe Erfahrung, analysiere. Ich sage Ihnen, daß Macron fallen wird. Ich kann nicht sagen wann, aber daß.  

Was ist mit Polizei und Armee?

Veulle: Dort herrscht großes Unbehagen darüber, was bei den Einsätzen passiert. Und es gibt schwarze Schafe, die ihre Einsatzregeln übertreten und gezielt Gelbwesten verletzen. Doch manchmal handelt die Polizei auch in Notwehr, wie bei jenem Vorfall vor der Nationalversammlung, bei dem einer von uns unglücklicherweise eine Hand verlor, denn die Polizisten dort waren eingekreist. Dann sind da noch die Kopfschüsse mit Vierzig-Gramm-Gummigeschossen. Diese wurden von der Vorgängerregierung angeschafft, weil sie präzise Schüsse erlauben. Deshalb denke ich, daß die Treffer gewollt sind und Innenminister Christophe Castaner Befehl dazu gab, um uns Demonstranten zu schockieren. Er dachte, er könne das Problem durch Gewalt ein für allemal lösen, doch er hat den gegenteiligen Effekt erzielt. Und was die Armee angeht: Ich glaube, sie ist froh, bisher nicht involviert zu sein. Doch die rücksichtslose Absetzung ihres Oberbefehlshabers, General Pierre de Villiers, hat ihre Sympathie für Macron nicht gerade erhöht. Und warum haben alle übrigen Generäle eine Prämie erhalten? Ganz einfach, um einen Staatsstreich zu verhindern! Doch oft putschen nicht die Generäle, sondern die Obristen.

Meinen Sie das ernst?

Veulle: Ich sage Ihnen bestimmt nichts, von dem ich nicht überzeugt bin.

Wie geht es mit der Bewegung weiter?

Veulle: Ich mutmaße, daraus wird eine Synthese der extremen Rechten und Linken hervorgehen, also der Bewegung La France Insoumise von Jean-Luc Mélenchons und des Rassemblement National, wie der Front National inzwischen heißt. Ich habe zum ersten Mal im Leben viele Freunde bei La France Insoumise, mit denen ich gut kooperiere.

Das soll funktionieren? 

Veulle: Solange wir uns gegenseitig nicht mit ideologischen Fragen belästigen, ja. Und zwar auf Grundlage einer Einigkeit darüber, daß es die Reichsten und die Multinationalen sein sollen, die künftig zahlen. Aber natürlich, letztlich wird das die Zukunft zeigen. 

Was ist mit den etablierten Parteien?

Veulle: Es wird sowohl zur Implosion von Macrons La République en Marche, wie auch der mit ihm kompatiblen Republikaner, wie die UMP seit 2015 heißt, kommen. Die Mitte, die uns seit vierzig Jahren regiert und getäuscht hat, wird zerfallen und an ihre Stelle werden pragmatische, starke Persönlichkeiten als politische Anführer treten. 

Und wenn es ganz anders kommt?

Veulle: Meinen Sie? Nein, Macron wird fallen und die ganze Welt wird überrascht, manche gar geschockt sein. In Deutschland etwa wird ein Fall Macrons sicher den raschen Fall Merkels nach sich ziehen. Dann gibt es auch bei Ihnen eine neue Lage. Sie fragen mich: „Und wenn es anders kommt?“ Nun, ich denke da offenbar weitaus positiver als Sie!  






Philippe de Veulle, der Pariser Rechtsanwalt gehört zur Gruppierung „Robes Noires et Gilets Jaunes“ (Schwarze Roben und gelbe Westen), dem Anwaltskollektiv der Gilets-jaunes-Bewegung. Er vertritt unter anderem Opfer des islamistischen Terroranschlags auf das Bardo-Museum in Tunis (März 2015) sowie auf den Pariser Club Bataclan (November 2015), weshalb er nach eigenen Angaben auf der Todesliste des Islamischen Staates steht. Seit er sich für die Gelbwesten engagiert, hat ihm Innenminister Castaner das Recht entzogen, eine Waffe zu tragen. Er ist zudem Hochschuldozent und lehrte unter anderem bereits am renommierten Centre d‘Études Diplomatiques et Stratégiques, am Institut des Hautes Études de Défense Nationale sowie an der Ecole de Guerre. Geboren wurde Philippe de Veulle 1966 in Paris.

Foto: Gelbwestenprotest vergangenen Samstag in Paris: „Ich fürchte, wir erleben, wie Macron der V. Republik den Todesstoß versetzt ... Wir müssen aufpassen, daß dies kein Bürgerkrieg wird“

 

weitere Interview-Partner der JF