© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Die Arroganz der Macht
In Paris protestierte die Gelbwestenbewegung zum 18. Mal: Linksextreme Gewalttäter bringen Gewaltexzeß / Ausweg nicht in Sicht
Eva-Maria Michels

Obwohl der Staat die Kosten für Hotel und Anfahrt übernimmt, sind neun von zehn Franzosen nicht bereit, an den regionalen Bürgerkonferenzen teilzunehmen, die sich an die „Große Nationale Debatte“ anschließen, die am 15. März zu Ende gegangen ist. Präsident Emmanuel Macron hatte diese Debatte im Januar als Antwort auf die Proteste der Gelbwesten ins Leben gerufen. Doch die Franzosen empfanden sie mehrheitlich von Anfang an als einen Kommunikationstrick beziehungsweise als eine Europawahlkampfveranstaltung der Präsidentenpartei „La République en Marche!“, denn sowohl die Themen als auch die Antworten waren von der Regierung zum Ankreuzen vorgegeben. Die Hauptforderung der Gelbwesten, die Einführung eines Bürgerbegehrens, wurde überhaupt nicht erwähnt. Folglich boykottierten die Gelbwesten von Anfang an die Regierungsveranstaltung und demonstrierten weiterhin jeden Samstag in Paris und der Provinz.

Für den 18. Akt am vergangenen Samstag, der auch vier Monate ununterbrochener Mobilisierung markierte, kamen Gelbwesten aus ganz Frankreich zur Demonstration nach Paris. Über die sozialen Medien hatten sich zudem Schwarze Blocks aus benachbarten Ländern wie Belgien, Deutschland und Italien angekündigt. Und so kam es auf den Champs-Élysées bereits ab dem späten Morgen zu schweren Straßenschlachten zwischen mehrheitlich linksextremen Chaoten aus Europa mit oder ohne gelber Weste und den Sicherheitskräften. Schwere Verwüstungen, Plünderungen und Brände auf der „schönsten Straße der Welt“ waren zu beklagen. Die Zerstörungswut der Schwarzen Blocks richtete sich vor allem gegen hochgradig symbolische Ziele: Bankfilialen, das Symbol der „Hochfinanz“, Zeitungskioske, Symbol der „Systemmedien“, Filialen weltweiter Luxusmarken, Symbole der „glücklichen Globalisierung“, die EU-Flagge, Symbol der „Diktatur“, das Edelrestaurant „Fouquet’s“, Symbol der „Privilegien der Politiker“, die dort regelmäßig feiern. Als das Restaurant später in Flammen aufging, war dies jedoch nicht den Randalierern geschuldet, sondern einer noch heißen Tränengasgranate, die versehentlich auf der Marquise landete.

Überschneidungen zwischen Linksextremen und Rechten 

Die Schwarzen Blocks genießen seit Jahren Narrenfreiheit in Frankreich. Die Antifa, die sich am vergangenen Samstag wieder unter sie mischte, wie unter anderem Aufkleber an der geschändeten Gedenktafel für den von einem Islamisten getöteten Polizisten Xavier Jugélé beweisen, hat darüber hinaus nicht nur keine rechtlichen Konsequenzen zu befürchten, sondern hat mächtige Fürsprecher im Establishment. Die sozialistische Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo stellt der Gruppe „Antifa Paris-Banlieu“ kostenlos Räumlichkeiten zur Verfügung, Host der Antifa-Netzseite „La Horde“ ist der Graphikdirektor von Le Monde, Aris Papathéodorou. Die linksliberale Tageszeitung wiederum gehört Matthieu Pigalle, dem Direktor der Bank Lazard, und dem milliardenschweren Gründer des Internetanbieters free, Xavier Niel. Der nationale Sekretär der CRS, der Polizeieinheiten für den Einsatz bei Demonstrationen, David Michaux von der Polizeigewerkschaft UNSA, beklagte noch am Samstag abend: „Es ist unglaublich, daß wir seit Dezember tausend auf Demonstrationen spezialisierte Polizisten [um den Elysée-Palast herum] statisch festsetzen. […] Ich bin empört, daß man die Leute, die für diese Arbeit ausgebildet sind, nicht mehr arbeiten und verhaften läßt.“ Damit erhärtet sich weiter der Verdacht, daß die Regierung Macron die Chaoten randalieren läßt, um eine in ihren Augen illegitime Volksbewegung im Volk zu diskreditieren.

Einen seltsamen Kontrast zum Chaos auf den Champs-Élysées bildeten die völlig friedlichen Demonstrationszüge der Gelbwesten, die von den verschiedenen Bahnhöfen aus zur Place de l’Etoile mit dem Triumphbogen zogen. Die Mißachtung der Regierung für alle ihre Forderungen und die Polizeirepression, die sich mehr gegen friedliche Demonstranten als gegen gewalttätige Chaoten richtet, haben allerdings zur Folge, daß sich zusehends mehr Gelbwesten mit den Schwarzen Blocks solidarisieren. Folgt man den Kommentaren in einschlägigen Facebook-Foren, sehen immer mehr Gelbwesten in ihnen eine Art Gelbwestenmiliz zum Schutz vor illegitimer Staatsgewalt.

Auch ideologisch gibt es Überschneidungen: Die linksextremen Chaoten kritisieren genauso wie die rechten Patrioten die desaströsen Folgen von Globalisierung und Euro für das Alltagsleben des „kleinen Mannes“ sowie die Zerstörung der Realwirtschaft durch die Spekulation der Hochfinanz. Weil es für die Gelbwesten zuerst um die Verteidigung ihres Lebensraums, ihrer Lebensgrundlage und ihrer Heimat geht, sind klassische ideologische Differenzen zwischen rechts und links zuerst einmal nebensächlich. Und so weht die französische Nationalflagge mit oder ohne Herz Jesu (mit dem Herzen ist sie das Symbol der Konterrevolutionäre, ohne – das Symbol der Revolutionäre) neben den vielen Regionalflaggen, so marschieren royalistische und katholische Gelbwesten geeint neben Anhängern der linksextremen „La France insoumise“ von Parteichef Jean-Luc Mélenchon, so erschallt die „Marseillaise“ allenthalben wieder wie zu Zeiten ihres Ursprungs als ein echter Revolutionsgesang.

Die Demonstration vom vergangenen Samstag war möglicherweise die letzte. Der Lkw-Fahrer Éric Drouet, eine der prominentesten Gelbwesten, äußerte sich am Samstag zumindest dahingehend. Zugleich rief er zu gezielten Blockaden der Multinationalen auf sowie zu anderen, nicht näher ausgeführten lokalen „Aktionen“. Ob er damit den Beginn eines Guerillakriegs gegen staatliche Institutionen und Multinationale meint, werden die nächsten Tage zeigen. Eine Gruppe Gelbwesten, begleitet von den beiden Anwälten David Libeskind und Philippe de Veulle (siehe Interview Seite 3), besetzte am Sonntag vorübergehend zum zweiten Mal eine Pariser Starbucks-Filiale, um mit dem französischen Starbucks-Direktor über die Problematik der Steueroptimierung zu diskutieren. Da dieser sich bisher der Diskussion verweigert, werden die Gelbwesten ihre Aktion wiederholen.

Ein Ausweg aus der Krise ist nicht in Sicht, im Gegenteil. Macron und seine Minister scheinen aufgrund fehlender Bodenhaftung weder den Ernst der Lage zu erkennen, noch verfügen sie über echte Autorität. Während die Sicherheitskräfte sich seit zwei Wochen auf schwere Ausschreitungen am Samstag vorbereiteten, entspannte sich Macron mit seiner Frau beim Skifahren im Pyrenäen-Wintersportort La Mongie. Ähnlich surreal waren die Bilder vom Wochenende davor, die Innenminister Christophe Castaner in einem Pariser Nachtclub in Begleitung einer Blondine zeigten, während sich seine Polizisten bis in den Abend Straßenschlachten mit dem Schwarzen Block lieferten.

Für neuralgische Orte gilt ab sofort ein Demoverbot

Anstatt mit der Lösung der sozialen und Identitäts-Krise des Volkes zu beginnen, gießt die Regierung sowohl verbal als auch mit Taten weiter Öl ins Feuer: Nach der Schadensbilanz beschimpfte Macron wie seit vier Monaten jede Woche üblich alle Gelbwesten als Chaoten: „Alle, die dort waren, waren Komplizen“, und er versprach „starke Entscheidungen“. Für neuralgische Orte in Paris und der Provinz gilt ab jetzt ein Demonstrationsverbot, wenn die Präsenz von Chaoten befürchtet wird, Dronen, Videoüberwachungsanlagen und bedrohliche Kampfstoffe sollen zum Einsatz kommen.

Doch in Wirklichkeit sind dies die Drohungen eines Machtlosen, der sich seine Machtlosigkeit nicht eingestehen will und statt dessen borniert weiter in die Richtung schreitet, die das Volk nicht will: Obwohl laut Meinungsforschungsinstitut Odoxa 82 Prozent aller Franzosen gegen die Rückholung von Dschihadisten ist, flog die Regierung am Tag vor den Gelbwestendemonstrationen die ersten Dschihadistenkinder aus Syrien ein. Obwohl die Privatisierung der Pariser Flughäfen in Wirtschaft und Gesellschaft extrem umstritten ist, ließ die Regierung das Parlament am vergangenen Freitag um sage und schreibe 6 Uhr 15 darüber abstimmen – und setzte das Gesetz, das auch eine Verschärfung der sozialen Minima vorsieht, mit 42 gegen 17 Stimmen von insgesamt 577 durch.

Es ist diese Arroganz der Exekutive, die die Gelbwesten auf die Barrikaden treibt. Noch hat Macron die Polizei auf seiner Seite, doch es rumort gewaltig in ihrem Inneren. Seit Jahresbeginn haben sich schon 18 Polizisten das Leben genommen. Am Samstag filmte der Journalist Rémy Buisine des TV-Mediums „Brut.“ im Livestream von den Champs-Élysées einen Polizisten, wie er vor der geplünderten PSG-Boutique mehrere weiße Trikots in seinen Rucksack packte. Ein anderer Polizist griff den filmenden Journalisten während der Aufnahme an und versuchte, dessen Telefon zu entwenden. Offiziell heißt es inzwischen, daß der Polizist Waren einpackte als Beweis gegen einen verhafteten Plünderer, doch viele zweifeln an dieser Version und sehen sogar den Polizisten selbst als Plünderer. 

Mai 2018

Die Kleinunternehmerin Priscillia Ludosky veröffentlicht eine Petition gegen die allgemeine Benzinpreiserhöhung – bis Mitte Januar kommen mehr als eine Million Unterschriften zusammen.

Ende Oktober

Éric Drouet, Lkw-Fahrer und Autoclub-Vorsitzender, nimmt Kontakt zu Ludosky auf und ruft via Internet zur Blockade des Landes am 17. November auf.

Anfang November

Die Geringverdienerin Jacline Mouraud stellt das Macron-kritische Video „Die Jagd der Kraftfahrer“ online, bis Mitte November mehr als sechs Millionen mal gesehen. Es gilt als Initialzündung für die Gelbwestenbewegung.

17. November

Beginn der Proteste: Gelbwesten blockieren landesweit Straßen. Nach Regierungs­angaben demonstrieren rund 283.000 Menschen. Die Polizei schlägt den Protest mit Wasserwerfern und Tränengas nieder.

November – Dezember

Jeden Samstag setzt die Gelbwestenbewegung die Proteste fort. In Paris kommt es zu bürgerkriegs­ähnlichen Ausschreitungen, Brandstiftungen und Plünderungen. Randalierer beschädigen den Triumphbogen schwer. Der Staat läßt Panzer auffahren, die Polizei greift mit äußerster Härte ein.

4. Dezember

Die Regierung kündigt an, die Steuer­erhöhungen zum 1. Januar für sechs Monate auszusetzen.

18. Dezember

Präsident Macron muß erneut reagieren und kündigt die „Große nationale Debatte“ an. Die  Gelbwesten reagieren mit Boykott. In einer Fernsehansprache verspricht Macron, den Mindestlohn um 100 Euro anzuheben und die eben erst erhöhte Steuer auf kleine Renten wieder zurückzunehmen.

16. Februar 2019

Der Philosoph Alain Finkielkraut wird von arabischstämmigen Demonstranten antisemitisch beschimpft.

15. März

Die Nationaldebatte endet. Bei den Protesten am 16. März gehen nach offiziellen Angaben nur mehr 32.000 Menschen auf die Straße. In Paris verwüsten 1.500 Antifas die Champs-Élysées. (emm/ru)